entstehen die Zeiten des Marktes in Selbstorganisation, das heißt in Form einer nicht von den Teilnehmenden an Marktprozessen zuvor abgesprochenen Institutionalisierung von Regeln, darunter auch zeitlichen. Gleichwohl benötigt auch die marktlogische Form in den Kommunikationsprozessen und die hieraus entstehende Zeitstrukturierung einer Gesellschaft, bis hinein in die kleinen Teilsysteme, eine dahinterstehende Rechtfertigungsordnung. Diese speist sich im Wesentlichen aus erstens dem Narrativ relativen gegenseitigen Nutzens der an einer derartigen ökonomischen Kommunikation teilnehmenden Subjekte; wie es u. a. von den Klassikern der Politischen Ökonomie, A. Smith und D. Ricardo, theoretisch verdichtet worden ist. Zweitens ist damit die Behauptung der maximal sparsamen Verwendung knapper Ressourcen verbunden (effiziente Allokation) sowie drittens das Versprechen einer nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch freien Gesellschaft. Darüber hinaus wird, vermittelt über die anderen Punkte, dem Markt als denkbar bestes Instrument des Ausgleichs unterschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Interessen, eine friedensstiftende Funktion zugeschrieben – innerhalb eines Gemeinwesens ebenso wie im internationalen Warenaustausch. Damit kann das Prinzip der optimalen wirtschaftlichen Nutzung der Zeit als sinn-freies Regelwerk wirtschaftlichen Austausches seine hegemoniale Stellung begründen, womit Zeitökonomie nun, außer auf dem Feld wirtschaftlicher Interaktion, generell in Konkurrenz zu den sinn-haltigen Strukturbildnern Politik und Religion tritt, welche die vorangegangenen Epochen bestimmt hatten.23
Konkrete Akteure gesellschaftlicher Zeitstrukturierung werden mit der Durchsetzung kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Strukturen in der Moderne zunehmend vor allem Wirtschaftsunternehmen und, seit ihrem Erstarken Ende des 19. Jahrhunderts, die Organisationen der Arbeiterbewegung bzw. Arbeitnehmervertretungen. Ihre Verhandlungsergebnisse bilden die jeweils möglichen zeitlichen Kompromisse eines historischen Zeitabschnitts zwischen dem Anspruch der Ökonomie und dem Anspruch des Humanums ab. Wobei Letzteres über die bloße Wiederherstellung der Arbeitskraft hinausweist und die gerechte Teilhabe am erreichten Wohlstandsniveau der Gesellschaft einschließt – hier, in der zeitlichen Dimension, in Form von „Zeitwohlstand“.24 Damit prägen die Tarifparteien wie niemand anderer die zeitliche Struktur der modernen Gesellschaft im Tages-, Wochen- und Jahresverlauf. Andere Teilsysteme, wie etwa die Verkehrsinfrastruktur, richten sich danach aus. Bestehende Strukturen stehen jedoch stets unter Veränderungsdruck: Sowohl infolge technischen Wandels als auch wirtschaftlicher Einzelinteressen lässt sich seit Beginn der Industrialisierung bis in die Gegenwart hinein die Tendenz beobachten, zeitliche Regularien wo immer möglich wieder zugunsten der Anpassung an die im Marktmechanismus inkarnierte Zeitlogik zu revidieren, etwa wenn es um Aufweichung des Sonntagsruhegebots geht.25
3.1.2.2 Technologie
Die Zeiten der Gesellschaft werden weiterhin durch die in moderne Technologien gleichsam eingebaute Verwendungs-Logik der Zeit geprägt, wobei diese wiederum eng an die Marktlogik gekoppelt ist. Die neuzeitliche Technologie setzt jedoch proprietäre Impulse, welche die Verzeitlichung der Gesellschaft weiter vorantreiben. Das Paradebeispiel einer modernen Technologie scheint auf den ersten Blick die mechanische Uhr, die unter anderem Jean Gimpel als die „Key-Machine“ der Transformation der nachmittelalterlichen Gesellschaft auf dem Weg in die industrielle Moderne bezeichnet hat.26 Die zeitliche Logik, die der industriellen Moderne zugrunde liegt, lässt sich jedoch besser an der Eisenbahn verdeutlichen. Denn während die Uhr als Maschine lediglich die Zeit zählt und sich darin nicht verändert, tendiert die Eisenbahn dazu, sich zeitlich immer wieder selbst zu optimieren, indem sie ihre Höchstgeschwindigkeit steigert.27 Erst auf Basis dieser Steigerungslogik verkörpert eine Maschine tatsächlich die Logik der neuen industriellen Epoche: So kann seitdem kein technisches Aggregat als effizienter gelten, das für ein identisches Arbeitsergebnis mehr Zeit benötigt als das vorauslaufende Modell.28 Da das Steigerungsspiel infiniter zeitsparender Verbesserung29 wie gesagt gleichsam in die industrielle Technologie eingebaut ist, kommt deren Zeitstrukturierungsfunktion ebenso wie der Markt ohne einen personalen Akteur aus. In der Praxis sind es dann Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Entwicklungsbüros sowie die technische Forschung, welche die zeitliche Steigerungslogik praktisch-organisatorisch in technische Aggregate umsetzen.
Technologien wirken über das bisher Gesagte aber auch zeitstrukturierend, indem sie aus der Logik ihrer Anwendung heraus ständig neue Maßstäbe bzw. Messgrößen von Zeit generieren: Wer den Weltraum erkunden will, muss einerseits in zeitlichen Dimensionen von Lichtjahren kalkulieren, um die Funktionszusammenhänge des Alls zu verstehen. Wer einen der Planeten erreichen will, muss jedoch gleichzeitig, allein um eine dementsprechende Zielgenauigkeit der Flugkörper zu erreichen, Maschinen entwickeln, die sich im Raster unvorstellbar kleiner Zeiteinheiten von Zepto-Sekunden bewegen können, was 10 hoch minus 21 Sekunden entspricht. Spätestens mit der Realisierung selbststeuernder Autos werden solche Zeit-Skalen auch relevant für die zeitliche Strukturierung vieler Bereiche unseres Alltags sein.
3.1.2.3 Politik und Administration
In demokratischen Gesellschaften werden, wie andere lebensweltliche Rahmenbedingungen, auch die Zeitstrukturen des öffentlichen Raumes weithin demokratisch generiert. Zu den großen hoheitlichen Aufgaben des Staates in diesem Bereich gehört unter anderem die Festsetzung und Überwachung einer für alle verbindlichen Uhrzeit, ebenso wie einer Kalenderordnung, der Zeitzone(n) des Landes einschließlich des jährlichen Wechsels von Sommer- auf Winterzeit, der allerdings seit einiger Zeit umstritten ist.30 Auch die Qualifizierung und der Schutz herausgehobener Zeiten, wie der Sonntagsruhe im Verfassungsrecht31 oder nationaler Feiertage, gehören dazu. Staatliche Kompetenz regelt weiterhin die zeitlichen Rahmenbedingungen der Demokratie als solcher, etwa die Festlegung der Dauer der Wahlperioden und -termine. Ebenso setzt der Staat die Fristen für die Abgabe der Steuererklärungen und viele andere rechtsverbindliche Zeitmarken. Die Kultusministerien zeichnen verantwortlich für die vielgestaltigen zeitlichen Regularien des Schulbetriebes (morgendlicher Schulbeginn, Dauer der Schulzeit, Ferienzeiten, Dauer von Klassenarbeiten etc.), an denen sich ihrerseits wieder ein erheblicher Teil des öffentlichen Lebens auszurichten hat. Auch unterliegen die zeitlichen Regularien des öffentlichen Straßenverkehrs hoheitlicher Entscheidung, von Geschwindigkeitsbeschränkungen bis hin zur Bewirtschaftung der Parkräume. Staatlich reguliert und durch die einschlägigen Administrationen überwacht sind weiterhin die Öffnungszeiten des Einzelhandels. Nicht zuletzt konzipieren kommunale oder überregionale Verkehrsanbieter, oft parastaatlich organisiert, die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel, die von den Nutzer/inne/n mehr oder weniger ohne Mitwirkungsmöglichkeiten zu akzeptieren sind. Öffentliche Dienststellen bestimmen, zumeist in ihrer internen Organisationslogik, die Zeiten ihrer Erreichbarkeit selbst.
Spätestens seit Kafka häufig Gegenstand satirischer Betrachtungen ist der selbstreferentielle Charakter bürokratischer Organisation, der strukturbildend sowohl im Außenverhältnis auf die Zeitstrukturen anderer Organisationen und Teilsysteme der Gesellschaft wirkt, als auch in die eigene Administration hinein. Kritisiert wird beispielsweise immer wieder eine selbstinduzierte, dysfunktionale Verlangsamung – nicht Entschleunigung – von Verwaltungsabläufen. Dies führt nicht selten zu erhöhten, in der Sache nicht zu rechtfertigenden Zeitkosten für die Bürger/innen. Diese entstehen auch, wenn bürokratischer Eigensinn in Verbindung mit weiteren Faktoren zu unnötigen Hindernissen bezüglich der Alltagsorganisation der Menschen führt, damit etwa die Vereinbarkeit von Familie und Beruf blockiert.32 Schließlich können zeitliche Asynchronitäten und Verzögerungen, verursacht durch staatliche Institutionen, aber auch schwerwiegende politische Konsequenzen haben – etwa dann, wenn der Staat im Kontext von Umweltpolitik und Klimawandel eigentlich gezwungen wäre, rasch zu handeln.33
3.1.3 Der nachmodern-personale Strukturierungsmodus
Von Emile Durkheim ebenso wie von späteren Theoretikern der Moderne zunächst nur theoretisch-konzeptionell als herausragendes Kennzeichen einer kommenden Epoche behauptet,34 ist die Individualisierung und Fokussierung auf das Subjekt als Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Selbstverständnisses westlicher Gesellschaften35 seit den 1980er-Jahren zunehmend Wirklichkeit geworden36 und hat damit auch das Verhältnis der Menschen zum Phänomen Zeit stark verändert. Zeit wird nun emphatisch als „eigene Zeit“ verstanden, das heißt als persönlicher Besitz