das nicht ganz so ruhig ausfiel, wie er es gern gehabt hätte – mit vier Teenagern im Haushalt war das offenbar nicht durchzusetzen – küsste er seine Frau und die beiden Töchter, verabschiedete sich von seinen Söhnen jeweils mit einem liebevollen Schlag auf die Schulter und verließ wie immer als Erster das Haus.
Er wollte vor der Operation genug Zeit haben, um Flora Müthen und ihren Zwillingen in aller Ruhe einen Besuch abzustatten. Das war ihm wichtig.
Als die junge Frau ihn sah, strahlte sie. »Mein Mann ist gerade erst gefahren, Herr Dr. Laurin!«, sagte er. »Er wollte wenigstens noch ein paar Stunden richtig schlafen. Er hat ja die ganze Nacht hier auf dem Stuhl verbracht.«
»Er wird sich schnell erholen, Frau Müthen.«
Eine Schwester kam mit den Zwillingen herein. Der Junge quäkte ein bisschen, das kleine Mädchen war ganz still, schlug aber die Augen auf, als es seiner Mutter in den Arm gelegt wurde.
»Geben Sie mir meinen Sohn auch!«, bat Flora Müthen. »Wozu habe ich zwei Arme?«
Dieses Bild nahm Leon mit in den Operationssaal: eine glückliche junge Mutter mit Zwillingen im Arm. Wie Antonia damals …
Die Operation verlief komplikationslos. Als er danach in sein Büro kam, blickte Moni Hillenberg, seine Sekretärin, auf. Sie war mit Michael Hillenberg, Eckarts Assistenten, verheiratet. »Ihr Schwager hat angerufen, Chef«, sagte sie.
»Dringend?«
»Er meinte, wenn Sie mal Zeit hätten, sollten Sie ihn zurückrufen.«
»Dann mache ich das gleich«, seufzte Leon. »Ob Sie einen Kaffee für mich hätten?«
»Kommt sofort«, sagte Moni, und so war es auch. Sein Schwager Andreas Brink, der Mann seiner Schwester Sandra, meldete sich in dem Augenblick, in dem Moni eine Tasse wundervoll duftenden Kaffees vor ihn auf die Schreibtischplatte stellte.
Er dankte ihr mit einem Lächeln. »Andy? Was gibt’s?«
»Ich habe hier einen Mordversuch auf dem Tisch«, sagte Andreas, der mittlerweile Kriminaloberkommissar war. »Angeblich liegt das Opfer bei euch in der Klinik, nach einem beinahe tödlichen Messerstich.«
»Mordversuch? Also, ich weiß nicht …« Leon berichtete, was er über Marco Friedrich und Tom Fröbel wusste. »Es hat sich eher nach einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei angehört, die dann ausgeartet ist.«
»Kann sein, kann auch nicht sein. Das Opfer hätte jedenfalls getötet werden können, wenn der Stich ins Herz getroffen hätte.«
»Das stimmt«, musste Leon zugeben. »Und das ist jetzt dein Fall?«
»Zumindest im Augenblick«, erklärte Andreas. »Mehr weißt du nicht?«
»Ich hatte keinen Nachtdienst, ich war nur wegen eines Notfalls hier, sonst hätte ich von der Sache überhaupt nichts mitbekommen. Aber die beiden an der Schlägerei beteiligten Männer dürften heute vernehmungsfähig sein.«
»Gut, dann komme ich später selbst vorbei. Vielleicht finden wir beide dann ja ein paar Minuten Zeit, um miteinander zu reden. Oder operierst du?«
»Das habe ich für heute schon hinter mir. Wenn du ungefähr sagen kannst, wann du kommst, sehe ich zu, dass ich Zeit habe.«
»In der Mittagszeit, gegen eins?«
»Klingt perfekt. Vorausgesetzt, mir kommt hier kein Notfall dazwischen, du weißt ja, wie das ist.«
Nach dem Gespräch genoss Leon den Kaffee und sann über den ›Mordversuch‹ nach. Ob es wirklich einer gewesen war?
*
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte Sascha Buder. »Ich habe überhaupt nicht geschlafen letzte Nacht, ich bin ziemlich müde. Außerdem will ich noch mal in die Klinik.«
Die beiden Polizeibeamten, die auf den Anruf von Eckart Sternberg hin in der Klinik aufgetaucht waren, hatten Sascha mitgenommen, damit sie seine Aussage zu Protokoll nehmen konnten.
Die Sache mit dem Messer hatte keinen guten Eindruck auf sie gemacht, das war ihm nicht entgangen. Zu Beginn der Befragung hatten sie ihn sogar verdächtigt, dass er selbst mit dem Messer zugestochen und es deshalb mitgenommen hatte. Irgendwann war es ihm dann aber wohl gelungen, sie zu überzeugen, dass das nicht der Fall war. Außerdem würde Tom ja hoffentlich die Wahrheit sagen, wenn er gefragt wurde. Und Marco würde sich bestimmt auch daran erinnern, dass Tom ihm das Messer zwischen die Rippen gejagt hatte und nicht etwa er, Sascha.
»Hier unterschreiben, bitte. Aber lesen Sie sich das vorher noch einmal durch.«
Es stand alles so da, wie er es zu Protokoll gegeben hatte, also unterschrieb er.
»Es kann sein, dass wir in den nächsten Tagen noch weitere Fragen an Sie haben, also halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.«
»Ich gebe Ihnen meine Handy-Nummer«, bot Sascha an. Es konnte nicht schaden, guten Willen zu zeigen, nachdem er schon den Fehler gemacht hatte, das Messer einzustecken. Das war wirklich dumm gewesen.
Einigermaßen zufrieden machte er sich auf den Heimweg. Bevor er wieder in die Klinik ging, musste er schlafen. Im Büro würde er sich krank melden, arbeiten konnte er heute auf keinen Fall.
Und dann musste er noch herausfinden, wieso Eva in der Klinik war. Sie hatte ganz schön fertig ausgesehen, das war ihm aufgefallen. Aber dieser alte Drachen von Schwester hatte ihn ja gleich fortgejagt.
Er unterdrückte ein Gähnen. Erst schlafen, dann würde er weitersehen.
*
»Alles in Ordnung?«, fragte Antonia, als sie gegen neun in der Kinderklinik eintraf und Ingo Ewert sie müde anlächelte.
»Geht so«, erwiderte er. »Wir sind unterbesetzt, das weißt du ja. Der Krankenstand ist hoch, und unsere Neue … ich glaube nicht, dass sie die Probezeit bei uns übersteht. Wenn wir nicht so große Personalnot hätten, würde ich ihr das am liebsten gleich sagen. Sie hatte gute Zeugnisse und Referenzen, aber sie kann nicht mit Menschen umgehen – und das als Kinderärztin. So etwas lässt sich aus Zeugnissen ja leider nicht ablesen.«
»So schlimm?«
Er nickte unglücklich. »Ich glaube nicht, dass ich übertreibe. Außerdem ist sie rechthaberisch, zugleich kommt sie mir unsicher vor.«
»Unsicher? Du meinst, so wie ich?«
»Aber nein! Du bist vorsichtig, aber nicht unsicher, das ist etwas völlig anderes. Du weißt, dass es dir an Praxis fehlt, aber du hast nichts vergessen, du bist umsichtig. Außerdem habe ich dich noch nie rechthaberisch erlebt. Frau Kröger dagegen beharrt auch dann noch auf ihrer Meinung, wenn alles gegen sie spricht. Ich möchte auf Dauer wirklich nicht mit ihr zusammenarbeiten.«
»Immerhin ist sie ausgebildete Kinderärztin, also gib ihr ein bisschen Zeit«, sagte Antonia. »ich habe sie ja noch nicht kennengelernt, aber so schlimm kann es doch eigentlich nicht sein.«
Eine Stunde später wusste sie es besser. Lisa Kröger war genau so, wie Ingo sie beschrieben hatte, wenn nicht schlimmer, denn sie benahm sich zu allem Überfluss auch noch herablassend gegenüber dem Pflegepersonal, und sie war tatsächlich ungeschickt im Umgang mit ihren kleinen Patientinnen und Patienten und deren Eltern. Sie schien nicht einmal zu merken, wenn sie den falschen Ton anschlug. Mehr als einmal griff Antonia später unauffällig ein, um die aufgeregten Gemüter ängstlicher Eltern zu besänftigen und Kinder zu beruhigen, die die wenig zugewandte Art der jungen Medizinerin in Angst und Schrecken versetzt hatte.
Antonia selbst wurde von Lisa Kröger womöglich noch herablassender behandelt als Schwestern und Pfleger. Ingo Ewert hatte Antonia zwar als ›Kollegin‹ vorgestellt, aber natürlich war es Lisa Kröger nicht lange verborgen geblieben, dass Antonia in der Kinderklinik nicht angestellt war, sondern dort gewissermaßen ein Praktikum machte. Das genügte ihr, um Antonia weitgehend zu übersehen und alles, was sie fachlich äußerte, auch vor Zeugen in Frage zu stellen.
Antonia biss die Zähne zusammen.