Sicherheit im Umgang mit ihren kleinen Patientinnen und Patienten gewinnen musste.
Manches vergaß man nie, aber wenn es um seltenere Erkrankungen ging, so nahm sie an, würde sie sie vermutlich nicht auf Anhieb erkennen. Dabei hatte sie, seit sie regelmäßig in die Kinderklinik kam, festgestellt, dass es zwar Dinge gab, die sie vergessen hatte, dass es aber meistens genügte, noch einmal die Fachliteratur darüber zu lesen, und dann war alles, was sie einmal gelernt hatte, wieder da.
Ingo wurde am späten Vormittag zu einem Notfall gerufen. Wenig später kam ein verzweifeltes Elternpaar mit einem zweijährigen Kind, dem es erkennbar schlecht ging. Die Kleine hieß Susie Strasser, hatte hohes Fieber und bereits mehrmals erbrechen müssen. Außerdem wimmerte sie vor Schmerzen und war nicht ansprechbar.
Antonia nahm das Kind in Empfang.
»Der Kopf tut ihr weh«, sagte Anke Strasser, die Mutter, mit Tränen in den Augen. »Das hat sie immer wieder gesagt, als sie noch sprechen konnte. Vorher hatte sie Halsschmerzen, die waren auch schlimm. Jetzt kann sie sich gar nicht mehr äußern.«
Sönke Strasser legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. »Helfen Sie unserem Kind!«, bat er.
Antonia begann mit ihrer Untersuchung. Währenddessen stellte sie den Eltern eine Menge Fragen. Seit wann ging es der Kleinen schlecht? Wann hatten die Halsschmerzen begonnen, wann hatte sie Fieber bekommen? Wie schnell hatte sich ihr Zustand verändert?
»Und dann konnte sie auf einmal den Kopf nicht mehr drehen«, sagte Anke Strasser.
»Ja, es war, als wäre ihr Nacken plötzlich unbeweglich geworden«, setzte ihr Mann hinzu.
Schon zuvor hatte Antonia einen Verdacht gehabt, jetzt begann er sich zu erhärten. Sie untersuchte die Haut des Kindes, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Und wenn sie sich nun irrte?
Lisa Kröger erschien. »Ich übernehme«, sagte sie knapp.
»Aber …«, begann Antonia, doch die junge Ärztin wandte ihr einfach den Rücken zu.
Die Strassers blickten unsicher von Antonia zu Lisa Kröger und zurück.
»Was fehlt dem Kind?«, fragte Lisa Kröger.
»Ich habe die Kleine bereits untersucht und eine Anamnese erstellt«, sagte Antonia. »Ich vermute …«
»Ich habe nicht Sie gefragt, sondern die Eltern«, erwiderte Lisa Kröger kalt.
Anke Strasser begann erneut zu weinen, ihr Mann warf Antonia einen weiteren Blick zu, dann sagte er: »Wir möchten, dass Frau Dr. Laurin unsere Tochter weiter behandelt.«
Lisa Kröger erstarrte.
Antonia gab sich einen Ruck. Nein, sie war nicht sicher, aber wenn sich ihr Verdacht als richtig erwies, brauchte Susie Strasser umgehend Hilfe. »Mein Verdacht lautet auf Meningitis«, sagte sie ruhig. »Und da das Mädchen erst zwei Jahre alt ist und die Symptome schon vor ein paar Stunden aufgetreten sind, ist Eile geboten. Wir müssen sofort mit Antibiotika behandeln ….«
»Aber doch wohl nicht, bevor die Diagnose feststeht«, warf Lisa Kröger ein. »Was reden Sie denn da für einen Unsinn?«
Erneut versuchte Sönke Strasser etwas zu sagen, doch Antonia kam ihm zuvor, indem sie nun ihrerseits Lisa Kröger belehrte. Mit Höflichkeit oder kollegialer Rücksichtnahme erreichte man bei ihr ja offenbar nichts. »Bei Verdacht auf Meningitis muss man bei so kleinen Kindern sofort Antibiotika einsetzen, auch wenn die Diagnose noch nicht feststeht, das sollten Sie eigentlich wissen!«, fuhr sie die junge Ärztin an. Und dann wandte sie sich an die Schwester, die bei ihrer Untersuchung zugegen gewesen war und erteilte ihr mit klarer Stimme Anweisungen.
»Das wird Ihnen noch leid tun!«, zischte Lisa Kröger, bevor sie aus dem Raum rauschte, mit hochrotem Kopf.
»Meningitis?«, fragte Anke Strasser mit zitternder Stimme. »Ist das … ist das eine Hirnhautentzündung?«
»Ja, Frau Strasser. Ich bin darauf gekommen, als ich hörte, dass Ihre Tochter einen steifen Nacken hat. Und es gibt noch ein paar andere Anzeichen, die in die gleiche Richtung weisen.«
Anke Strasser schlug beide Hände vors Gesicht, auch ihr Mann hatte Tränen in den Augen.
Die Schwester kam mit den Medikamenten zurück und legte sofort einen Zugang.
»Wir müssen jetzt etliche Untersuchungen vornehmen«, sagte Antonia, nun wieder mit sanfter Stimme. »Sie sollten draußen warten. Es wird eine Weile dauern, bis wir Gewissheit haben, aber die Medikamente werden Ihrer Tochter helfen, die Krankheit zu bekämpfen.«
»Wird sie wieder gesund werden, Frau Doktor?«
»Wir tun für sie, was in unserer Macht steht, das verspreche ich Ihnen.«
Antonia vergaß alles um sich herum, während sie die Untersuchungen für Susie Strasser veranlasste und zum Teil selbst durchführte. Es kam ihr so vor, als hätte sie nie etwas anderes getan. Es gab keine Unsicherheit mehr, keine Fragen, kein Zögern.
Es ging nur noch darum, herauszufinden, ob die kleine Patientin tatsächlich an Meningitis litt oder nicht. Alles andere hatte dahinter zurückzustehen.
*
»Ich bin Dr. Laurin«, sagte Leon. »Wir sind uns heute Nacht schon begegnet, im OP – Sie werden daran keine Erinnerung haben. Wie fühlen Sie sich jetzt, Herr Friedrich?«
»Nicht so gut«, antwortete Marco. »Stimmt es, dass ich niedergestochen wurde? Jemand hat das gesagt.«
»Sie erinnern sich also nicht daran?«
»Nur an Tom, der mich die ganze Zeit dumm angemacht hat. Ich habe ihm irgendwann eine gelangt, damit er endlich Ruhe gibt. Aber er ist mir gefolgt und hat immer weiter gemacht, und dann ist eine richtige Prügelei daraus geworden. So weit kann ich mich schon erinnern. Aber dann ist da so ein … na ja, eine Art Filmriss, und ich weiß nichts mehr.«
»Erinnern Sie sich auch nicht daran, dass noch ein Freund von Ihnen dazu gekommen ist?«
»Ein Freund?« Marco dachte nach. »Ach so, Sie meinen Sascha. Ein Freund ist er nicht direkt, aber es stimmt, er ist dann plötzlich aufgetaucht, und ich war froh darüber, weil ich dachte, damit wäre die Prügelei beendet.«
»Aber das war sie nicht?«
»Ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht an das, was dann passiert ist.«
»Sie werden gleich Besuch von der Polizei bekommen. Da Sie durch einen Stich in Herznähe schwer verletzt worden sind, interessiert sich die Polizei für diesen Fall.«
»In Herznähe?«
»Ja, Sie haben mehr Glück als Verstand gehabt, Herr Friedrich.«
Leon verabschiedete sich und stattete auch Tom Fröbel einen Besuch ab, den er jedoch wesentlich weniger sympathisch fand als Marco Friedrich, und das lag nicht an seinem durch die stark geschwollene Nase verunstalteten Gesicht.
»Ich will endlich nach Hause! Sie haben kein Recht, mich hier noch länger festzuhalten!«
»Die Polizei besteht aber darauf«, erwiderte Leon kühl. »Es gibt einige Fragen an Sie, Herr Fröbel. Wenn Sie die beantwortet haben, dürfen Sie gehen.«
Nach Tom Fröbel suchte er auch Eva Maischinger noch auf, deren Geschichte ihn nach wie vor stark beschäftigte. Sie lag nicht länger in der Notaufnahme, sondern war frühmorgens auf die gynäkologische Station verlegt worden.
»Ich hörte, Sie wollten uns heute Nacht verlassen, Frau Maischinger?«, fragte er, als er an ihr Bett trat.
Sie wurde rot, leugnete aber nicht. »Ja«, gab sie zu, »aber ich habe gemerkt, dass es wohl zu früh war. Was ist denn mit mir los, Herr Doktor? Warum wird mir sofort schwindelig, wenn ich aufstehe?«
»Wir werden ein paar Untersuchungen vornehmen müssen, um das herauszufinden. Immerhin hoffe ich, dass es Ihnen hier auf der Gynäkologie besser gefällt als in der Notaufnahme?«
»Schon,