weil sie ihren Malkittel abstreifte und an den Haken hängte. „Kommen Sie, Tofte,“ sagte sie dann und zog ihm den Linnenrock aus, „Sie gehen ja daher, als wären Sie von Stein.“ Gwendolin hatte nun wirklich das gelbe Kleid an und sah aus, als liefe sie gerade aus dem Bilde vom Jockelebuch.
Marit, das Hausmädchen, hatte inzwischen das Smörgasbord hergerichtet; und Jockele und Do erfuhren, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Dieser Vorspeisentisch stand an der anderen Schmalseite des Saales, der Feuerstelle gegenüber, und wies, sauber zugeschnitten, alle Herrlichkeiten auf, die Nane Thord an den Vormittagen drüben in der Welt erhandelte. Es standen Teller dabei. Jeder nahm sich so viel und wonach er Lust hatte.
Henrik Tofte hatte draussen gefrühstückt. Er beschied sich bei einem Vortrunk Pomerans und Finkelbränvin. Dann sassen sie um den Tisch her. Tofte konnte tagelang zugeschlossen sein wie die Memnonssäule; aber heute klang er sein Glück in die Welt in ewigem Sonnenaufgang. „Herr, Herr, ich habe Mortsrespekt vor Ihnen,“ sagte er zu Jockele, „aber dies erste volle Glas bring ich Ihrer herrlichen Frau! Frau Do, wissen Sie, dass Sie einen finsteren Winter lang der hohe Stern dieses Hauses gewesen sind?“
Da die Hauptmahlzeit erst des Abends um sieben Uhr genommen wurde, hatte man Musse, alles zu erfahren, was man voneinander wissen wollte. Jockele und Do würden auch Gelegenheit haben, alle Sturmschwalben kennenzulernen, die in diesen Tagen im Hardanger Fjord wohnten, sagte Gwendolin. „Sie fliegen nämlich herum, wo sie wollen — auf, in die Fjelds oder gar hin zu den Firnen, weit ins Land, zu den Wasserfällen in die Schluchten, oder sie segeln den Fjord entlang. Nur zu Tisch erscheinen sie des Abends alle mit Pünktlichkeit.“
Hanna von Fellner und Gwendolin kannten sich übrigens nicht. Auch hatte sich seit Hannas kurzem Aufenthalte manches geändert; denn Henrik Tofte und Gwendolin wohnten nun doch auf der Insel bei Nane Thord. Durch den Anbau waren in dem Fischerhause zwei kleine Räume dafür frei geworden.
Neben dem Wiedersehen erstaunte Jockele am stärksten über das Verhältnis Dos zu Gwendolin. Er musste jenes Tages auf dem Ettersberge bei Weimar gedenken, an dem sie Gwendolin malend im Walde getroffen hatten. „Jakobus Sinsheimer,“ hatte Do damals zu ihm gesagt, „diese da ist Gwendolin Vogelgesang, eine Böhmin, und sehr jung. Die Männer finden sie hübsch, und sie kann etwas.“ So war das Bild Gwendolins rasch und zutreffend von ihr gezeichnet worden. Aber zu einer herzlichen Zuneigung war es zwischen den Mädchen nie gekommen. Und als der Jockele in seinem jungen Unverstand an das heisse Abenteuer mit Gwendolin geraten war, hatte ihn Do sogar mit eifersüchtigem Spott überschüttet, und sie hatten einander den Frieden auf ein paar Wochen gekündigt.
Nun, Gwendolin war im Hardanger Fjord noch genau so verführerisch wie im Sommerwalde des Ettersberges. Ja sie war vielleicht noch gewalttätiger geworden in ihrer Sieghaftigkeit und Sinnenfreude. Aber Do brauchte sie heute nicht mehr zu fürchten. Und sie war auch inniger und fraulicher — natürlich nur, was ihr Herz anlangte; denn die schlanke Biegsamkeit des Leibes und das ganze betörende Feuer ihrer zwanzig Jahre schienen ihr unveränderliches Eigentum.
Den Samowar, den Gwendolin damals in einer Nebelnacht für Jockeles kleines Heim gestiftet, hatten sie mitgebracht. Von ihm war nun die Rede.
„Ach, der Teekessel!“ jauchzte Henrik Tofte. „Das ist ja eine famose Geschichte!“
„Die kennen Sie auch?“ wunderte sich Do.
„Kunststück! Alles kennen wir — als hätten wir’s miterlebt!“ gestand der Maler. „Wir wissen sogar, dass Jungjockele in jener verbiesterten Nacht zweimal den Namen Gwendolin Vogelgesang über die schöngemusterte Teedecke losgelassen und gesagt hat, es kröchen nun zwei Schlangen auf dem Tisch herum.“
Gott, wie lustig sich die Welt von damals jetzt ausnahm aus der gesicherten Entfernung heraus!
So lag das Lebensbuch des Jockele aufgeschlagen zu tiefster Vertraulichkeit für alle, die es sehen wollten. Und weil man auf der Insel einen Winter lang wissbegierig darin gelesen hatte, leistete sich der Jockele auch seinerseits gleich die vertrauliche Frage: „Henrik Tofte, wollen Sie Gwendolin Vogelgesang heiraten?“
„Jawohl, was mich anlangt,“ sagte der. „Wir haben davon mehrfach miteinander geredet. Aber mit der Gwendolin ist ja nichts anzufangen, wenn sie nicht will.“
„Und — sie — will — nicht?“ forschte Jockele aus drohender Versteinerung heraus.
„Will nicht!“ bestätigte Tofte und zog die Schultern.
„Will nicht?“ sagte Gwendolin. „So ist das nicht richtig! Nur — ich habe gelernt, mir diese Dinge zu überlegen. Man weiss, ich bin nicht ohne Erlebnisse. Und immer musste ich es sein, die zur Vernunft kam, wenn es höchste Zeit wurde. Daher ist die Rede unter den Menschen: die Gwendolin Vogelgesang verleugnet nach vier Wochen kaltherzig jede Liebe ... Nicht wahr, Jockele?“ fragte sie in Erinnerung an den Zwetschengarten von Ettersburg.
„Es war das närrische Jungsein,“ sagte Jockele.
„... das ich mein Lebtag nicht loswerden kann,“ ergänzte Gwendolin. „Aber ich bin höllisch klug geworden und auf der Hut vor mir selber. Dürfte ich anders den Mut haben, mich — als das einzige junge Mädchen — in den Ring der Männer zu wagen, die des Abends hier zu Tische sitzen?“
Man merkte dies Gespräch war die ganz persönliche Angelegenheit Gwendolins und Henrik Toftes. Es brach jäh ab, als sich die Tür öffnete.
Rolf Krake kam herein.
Er ging ein wenig vornübergebeugt und sah aus, als wollte er dem Geheimnis Gott auf den Grund kommen; und so, als wüsste er, dass es nur noch eins gebe, das unergründlicher sei: nämlich er selbst. Aber das wusste er nicht. Er hatte ein schmales, bartloses, scharfmodelliertes Gesicht mit einer auffällig hohen Stirn. Darüber dünnes blondes Haar, nach rückwärts gestrichen. Es schien zu wehen, so oft er in innere Erregung geriet. Ein anderes Zeichen dafür gab es an diesem besinnlichen, etwas übernächtigen Kopfe nicht. Denn die Augen lagen ihm unter der kraftvollen Stirn — grau und gross, und wer diese Augen zum erstenmal sah, der dachte, es gebe auf der Welt keine, die ruhevoller wären. Weit offen — und dennoch Rätsel, die kein Mensch je gelöst hat ... wenn man nicht sagen will, dass dies dem Schwurgerichte gelungen sei, vor das Rolf Krake hernach gestellt wurde. Augen, wie diese, hatte niemand. Nicht einmal Nane Thord. Denn die von Nane Thord waren zwar auch grau, gross und ruhevoll, aber sie leuchteten jeden Tag über einen Wunderglauben. Deshalb konnte Nane Thord zuzeiten in die Welt schauen wie ein Kind, welches den lieben Gott sucht und meint, er stehe hinter der nächsten Ecke und spiele mit ihm Verstecken. — Seine Lippen waren schmal, aber nicht verkniffen; sondern dieser Mund sah aus, als könnte er sich nur mit Rolf Krake unterhalten. Und doch hatte Rolf Krake keinen Feind auf der Welt als sich selber. Aber er war der Meinung: er selbst wäre sein bester Freund. In diesem Wahne litt er sich an den Rand des Verderbens; denn sein bester und edelster Freund war sein Bruder Woldemar. Der war aber noch niemals im Hardanger Fjord gewesen; denn Rolf Krake hatte ihm, in seiner Einbildung von der Feindschaft des Bruders, seinen Aufenthalt schon seit Jahr und Tag verschwiegen. Nur manchmal, manchmal bekam er eine so heftige Sehnsucht nach ihm, dass er Mister Johnnys Segelboot losmachte — mitten in der Nacht — und den ganzen Fjord lang segelte — mitten in der Nacht — bis hinaus gegen den Bömmelsund, wo das Meer offen wird. Das tat er, weil er auf diese Weise den grossen und schnellen Dampfer erreichte, der im Morgengrauen von Norden kommt und nach Kiel fährt. Von dort aus reiste er seiner unheimlichen Sehnsucht nach, in einem fort bis Jena, wo sein Bruder Woldemar studierte. Aber wenn er ihm dann die Hände schüttelte, dachte Rolf Krake: „Es ist doch so — dieser Mensch ist mein schlimmster Feind.“ Und in der nächsten oder in der folgenden Nacht reiste er ohne Abschied wieder von ihm weg. — Bei alledem hielt kein Mensch seine Sinne sorglicher zusammen als Rolf Krake.
Was die Leute von ihm wussten, und wie sie sich das Geheimnis Rolf Krake ausdeuteten — das kannten Do und Jockele von Hanna. Es war vielerlei, aber es war nicht viel. Und die Deutung war flach.
Rolf Krake dichtete und malte. Rolf Krake studierte dickleibige theologische Schriften, aber mit gleichem Eifer Darwin, Büchner und Haeckel. Er hatte zwar den Anbau zu Nane Thords Fischerhütte errichten lassen, aber er wohnte in der