Brigitta Schröder

Blickrichtungswechsel


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eigene, individuelle Haltung zu suchen, zu überprüfen und zu finden. Dies ermöglicht, Menschen mit Demenz im Alltag wertschätzend zu begleiten, zu fördern und zu unterstützen.

      Menschen mit Demenz unterliegen gravierenden Einschränkungen. Zwischenmenschliche Kontakte sind anders zu gestalten, dadurch entwickelt sich gegenseitige Bereicherung.

      Begleitende Menschen sollen durch meine Aufzeichnungen ermutigt werden, für sich selbst gut zu sorgen, damit sie den Herausforderungen gewachsen sind und bleiben. Neben allem Belastenden kann sich durchaus ein persönlicher Gewinn ergeben. »Lernen mit und von Menschen mit Demenz« ist für die heutige, oft kopflastige und nach Profit und Erfolg strebende Gesellschaft kaum denkbar. Einen Blickrichtungswechsel vorzunehmen, um dem Sein statt dem Tun, dem Immateriellen statt dem Materiellen Raum zu geben, ist eine Voraussetzung für diese neue Sichtweise, die zu einer persönlich bereichernden Haltung führen kann und die des steten Einübens bedarf.

      Mein Anliegen ist, mich mit den Lesern in einen inneren Dialog und durch ein verständnisvolles Miteinander auf einen gegenseitig befruchtenden Weg zu begeben. Ich bin Schweizerin, lebe seit 1971 in Deutschland und gehöre der Diakonissen-Schwesternschaft Neumünster an. Sie ist der Ursprung der heute renommierten Stiftung »Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule«, Zollikerberg/Zürich, die sich mit Fragen des Alterns und der Demenz in ethischer, wissenschaftlicher und spiritueller Sicht beschäftigt sowie sich in Fortbildung und Praxis auseinandersetzt und einen interdisziplinären Dialog fördert.

      Altersfragen haben mich schon immer fasziniert. In den 1970er-Jahren habe ich das Altenheim »Ruhrgarten« in Mülheim an der Ruhr eröffnet und die ersten Spuren in der Altenarbeit hinterlassen. Meine langjährige Freundin Martha Soltek, von Beruf Prokuristin in einem metallverarbeitenden Unternehmen, hat mich nach ihrer Pensionierung über Jahre in meinem Berufsleben nachhaltig begleitet und unterstützt. Sie bekam um die Jahrtausendwende eine Demenz. Wir wohnten und lebten miteinander in ihrer Stadtwohnung. Ich habe sie auf ihrer letzten Wegstrecke begleiten können. Die Konfrontation mit ihrer Persönlichkeitsveränderung hat mich veranlasst, mich mit dem Thema Demenz intensiver auseinanderzusetzen. Martha Soltek hat mir durch ihre Erkrankung die Tür zur Residenz »Nova Vita« in Essen geöffnet. Hatte ich Termine in der Schweiz wahrzunehmen, verbrachte sie ihre Kurzzeit- und Verhinderungspflege in dieser Institution. Dieser Kontakt zur Residenz »Nova Vita« war mein Einstieg in die Begleitung von Menschen mit Demenz. Regelmäßig besuche ich die Bewohner dieser Institution.

      Meine Aufzeichnungen sollen nicht in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Demenz« oder die oft beschriebene, sozialtherapeutischen Konzepte und autobiografischen Erfahrungen eingereiht werden, sondern finden ihren Platz beim Schwerpunkt Ethik, Individualität und Kreativität. Meine Gedanken und Aussagen sind aus der Praxis für die Praxis. Sie dienen, Menschen mit Demenz in ihrem Sosein und Verhalten vorurteilsfrei zu begegnen. Ich lade jeden ein, Mut und Neugier aufzubringen, hinter dem befremdlichen Verhalten dementer Menschen ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu erlernen, sich in ihrer Seins-Ebene frei und ungewohnt zu bewegen. Das ist der Blickrichtungswechsel, der mir wichtig ist. Jedem einzelnen Gesprächspartner danke ich persönlich für die Unterstützung beim Lesen, beim Strukturieren, bei Korrekturen, für kritische Nachfragen und für alle erhaltenen Anregungen.

      Eine chinesische Legende

      Es gab einmal einen Bauern, dessen Pferd davonlief. Dabei handelte es sich um eine herrliche, preisgekrönte Stute. Sofort kamen die Nachbarn, um dem Bauern ihr Mitleid über den herben Verlust auszusprechen: »Du bist sicher sehr traurig?«, sagten sie, doch der Bauer antwortete nur: »Vielleicht.«

      Und eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wieder kamen die Nachbarn, diesmal zur Gratulation. »Du bist jetzt sicher sehr glücklich?«, sagten sie und wieder antwortete der Bauer: »Vielleicht.«

      Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, auf einem der Wildpferde zu reiten. Er wurde abgeworfen und brach sich ein Bein. »So ein Pech!«, sagten die Nachbarn. »Vielleicht«, antwortete der Bauer.

      Drei Tage später kamen Offiziere ins Dorf, um Soldaten zu rekrutieren. Sie nahmen alle jungen Männer mit, eben nur den Sohn des Bauern nicht, weil er für den Kriegsdienst untauglich war.

      Vorwort zur 4. Auflage

      Mit der 4. Auflage dieses Buches ist es sicher sinnvoll, ein neues Vorwort zu schreiben. Seit seinem ersten Erscheinen in 2010 hat sich in der Zwischenzeit vieles sehr zum Positiven verändert. Die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz werden immer besser wahrgenommen und berücksichtigt.

      Damals wurde der Titel belächtet und bewertet, denn seine Perspektive, dass Menschen mit Demenz Kompetenzen haben und wir von ihnen lernen können, war eine Herausforderung. Die damalige Sichtweise ist gewesen, dass diese Menschen nur eine Belastung sind und von der Gesellschaft marginalisiert werden. Demenz wird auch heute noch als Schreckgespenst angesehen.

      Heute ist Demenz – die häufigste Form ist Alzheimer – in aller Munde. Unzählige Bücher, Filme, Tagungen, aber auch praxisnahe kulturelle Angebote stehen heute zur Verfügung. Durch Museums-, Konzertbesuche und unterschiedlichste Projekte wird versucht, diese Menschengruppe und deren Angehörigen durch Teilhabe zu integrieren.

      Auch die Forschung, die Digitalisierung, ist glücklicherweise an Menschen mit Demenz interessiert. Die Eigenständigkeit dieser Menschen wird gefördert, um besser auf ihre Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Mithilfe digitaler Bildschirmmedien können diese Menschen z. B. spielerisch durch eigene Bewegung Fahrradfahren oder gemeinsam kegeln. Durch Knopfdruck können Lieder, Erzählungen u. v. a.m. abgerufen werden. Diese Aktivitäten werden den Teilnehmenden angepasst, somit gibt es nur Gewinner, denn diese Menschen haben schon genug verloren.

      In der Pflege sind aktuell kleine, ansprechende Roboter in der Erprobungsphase. Sie werden nie den menschlichen Kontakt ersetzen, dafür entlasten sie gestresstes, ungeduldiges, wertendes Personal. Menschen mit Demenz verlieben sich in diese künstlichen Wesen, denn Wertung und Beurteilung entfallen. Die Roboter warten geduldig, bis auf die gestellten Fragen Antwort gegeben wird. Die oft zurückgezogenen Menschen mit Demenz werden durch diese künstliche Intelligenz ernst- und wahrgenommen, denn sie sagen niemals, sie hätten keine Zeit noch sie wären gestresst.

      Am Kirchentag in Wittenberg bin ich von einem solchen Roboter gesegnet worden. Seine erhobenen Handflächen leuchteten hell. Beindruckend war, dass ich die Sprache und die Stimme selbst bestimmen konnte. Auch Inhalte des Segens konnte ich beeinflussen. Nach dem gesprochenen Segen kam die Frage des Roboters, ob ich den Segen ausgedruckt nach Hause nehmen möchte. Ein Knopfdruck, und ich hatte den Segen in der Hand. Sicher ist es befremdlich, dennoch gibt es positive Aspekte. Ich bin mitbeteiligt und der Segensgebende steht stets zur Verfügung.

      Wie erleben die Angehörigen und die Betroffenen all diese Aktivitäten? Sind sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen und ist Scham verblasst? Ist das Selbstwertgefühl der Menschen mit Demenz gewachsen? Können sie zu ihrer Behinderung stehen und nehmen sie die veränderte Situation an? Sind Angehörige bereit, gut für sich selbst zu sorgen, und nehmen sie Unterstützung an? Verblassen die Leidensstrukturen und die Aufopferungstendenzen bei den Begleitenden? Wird heute über Menschen mit Demenz nur gesprochen oder sind sie in ihrem So-Sein in Vereinen, Senioren-Clubs, Kirchgemeinden, in der Familie, im Quartier willkommen und integriert? Ist die Haltung dieser Gruppen wertend oder wurde entdeckt, welche Kompetenzen Menschen mit Demenz haben? Besteht die Bereitschaft, von ihnen zu lernen – etwa Aspekte wie z. B. Entschleunigung, Authentizität und die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, sich zu befreien von allem Materiellen und sich nicht mehr um die Vergangenheit und Zukunft zu sorgen?

      Beim Überprüfen des Geschrieben für die 4. Auflage des Buches habe ich erkennen können, dass der Inhalt an Aktualität nicht verloren hat. Die Gleichwertigkeit, die gelebte Wertschätzung wird in diesem Buch praxisnah betont und unterstützt die gegenseitige Ermutigung. Die angeführten Beispiele, die eingefügten Texte regen die eigene Kreativität und Phantasie weiterhin an: für sich selbst gut zu sorgen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, um mit Menschen mit Demenz auf Augenhöhe im Geben und Empfangen