Lebensqualität fördern und ungewöhnliche Grenzüberschreitungen wagen. Quälende Sinnfragen tauchen auf. Die Bereitschaft, sich auf die Seins-Ebene der Menschen mit Demenz zu begeben, kann Antworten auf solche Fragen bringen. Es liegt an uns, einen Blickrichtungswechsel vorzunehmen, der uns die schwierige Situation deutlich erleichtern kann. Aus einem halbleeren Glas wird aus unserer veränderten Perspektive ein halbvolles. Ich bin Gestalter meines Lebens und Herr über meine Gedanken, Gefühle und mein Tun.
– Krisen werden Chancen. –
Ronald Reagan hat 1994 in einem offenen Brief bekanntgegeben, dass bei ihm die Alzheimer-Krankheit festgestellt wurde. Er verabschiedete sich von der Öffentlichkeit mit den Worten: »Ich beginne nun die Reise in die Abenddämmerung meines Lebens.« Durch dieses Bekenntnis hat Reagan positiv und wesentlich dazu beigetragen, dem Thema »Alzheimer« in der Öffentlichkeit Raum zu geben.
Als Folge der Erkrankung distanzieren sich betroffene Familien häufig aus Scham von ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Das ist kein guter Weg. Menschen mit Demenz gehören in unsere Mitte. Sie und ihre Angehörigen benötigen besondere Wertachtung, Integration und Gelegenheit, über die Erkrankung zu sprechen. Empathische Anteilnahme mildert den Schrecken vor der Persönlichkeitsveränderung.
»Gefahr erkannt, Gefahr gebannt«, lautet eine alte Volksweisheit. Nach diesem Prinzip versuchen Wissenschaftler zu handeln, wenn sie sich mit dem Problem der Demenz auseinandersetzen. Die Differenzialdiagnose ermöglicht frühzeitige Maßnahmen, um eine manifeste Demenz zu lindern oder die schwerwiegenden Folgen wie Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszuzögern. Je früher und eindeutiger die Diagnose durch einen Facharzt oder die Memory-Klinik ist, umso gezielter kann eine individuelle Therapie ansetzen. Der Behandlungsansatz wird individuell ausgewählt und festgelegt. Sozialtherapeutisches Vorgehen statt medikamentöser Maßnahmen steigert die Lebensqualität der Betroffenen in ihrem Umfeld.
Häufig treten gravierende Beziehungsschwierigkeiten auf, bevor eine Demenz diagnostiziert wird. Ein gesunder Ehepartner wird vermeintlich als Patient mit psychischen Störungen angesehen und stationär aufgenommen. Erst der Blick auf die Familiensituation und Klärung der Verhaltensstörungen des vermeintlich gesunden Partners können zu einer Diagnose führen.
Die Tochter eines Pfarrers hat mir Folgendes anvertraut: Sie und ihre Geschwister erleben zwischen ihrem älter gewordenen Vater und ihrer Mutter zunehmende Beziehungsstörungen, die in unerklärlichen Streit münden. Gemeinsam entscheiden die erwachsenen Kinder, sich diesem schwierigen Thema nicht anzunehmen, weder nachzufragen, sich einzumischen noch zu intervenieren. Die Mutter benötigt nach einiger Zeit ärztliche Behandlung mit der Folge, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen wird. Bei der Untersuchung wird festgestellt, später diagnostiziert, dass sich beim Ehemann eine Demenz schleichend entwickelt hat. Seine Erkrankung ist die Ursache der psychischen Störungen der Ehefrau, die nach einer kurzen Zeit der Behandlung gesund entlassen wird.
– Hinschauen, nicht weggucken! –
Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr,
kommt von irgendwo ein Lichtlein her,
dass du es noch einmal wieder zwingst
und von Sonnenschein und Freude singst,
leichter trägst des Alltags harte Last
und wieder Kraft und Mut und Glauben hast.
Volksmund
1.4 Bildhafte Darstellung
Demenz wird heute, unabhängig von der Ursache, als ein im Verlauf des Lebens auftretender Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit bezeichnet, die so stark ist, dass die Fähigkeit, Alltagsaktivitäten durchzuführen, verloren geht.
Grundsätzlich ist jeder Verlauf einer Demenz einzigartig und benötigt eine entsprechend individuelle Vorgehensweise. Das Geschehen kann grob in drei Stadien eingeteilt werden, die mithilfe dieser drei Baumbilder verdeutlicht werden.
Abb. 1.1: Bildhafte Darstellung der Demenz
Im frühen Stadium verändert sich die Baumkrone. Im Vordergrund stehen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, der Orientierung und der Wortfindung. Der Alltag kann weitgehend selbstständig bewältigt werden. Bei Geldangelegenheiten oder Organisationsfragen entstehen Überforderungen. Gedächtnisstörungen und die Empfindung des eigenen defizitären Verhaltens nehmen die Betroffenen bewusst war, deshalb gibt es Phasen des Unglücklichseins, der Traurigkeit, der Resignation bis hin zur Depression. Diesem Schmerz Raum zu geben, ihn zuzulassen, kann auffallendes Verhalten, Angst und Rückzug mildern. Die Betroffenen fühlen sich dadurch verstanden, angenommen und bejaht in ihrem sich verändernden Zustand. In diesem Stadium werden Defizite häufig überspielt. Es ist eine Phase des Findens, Erkennens, bestenfalls der Akzeptanz. Diskussionen, Streitgespräche und Rechthaberei erschweren diesen Prozess.
Im mittleren Stadium verliert der Baum Zweige und Äste. Die Einschränkung der Alltagsbewältigung nimmt zu. Mahlzeiten zuzubereiten verursacht Schwierigkeiten. Das eigenverantwortliche Handeln wie Einkaufen oder Bedienung von Haushaltsgeräten ist kaum noch möglich. Gefahrenzonen vergrößern sich. Selbst- und Fremdgefährdungen nehmen zu. Die zeitliche, örtliche und persönliche Orientierung ist gestört. Der Tag-Nacht-Rhythmus kann sich verändern durch Unrast, Umtriebigkeit und Bewegungsdrang. Sich selbst, Angehörige und Bezugspersonen zu erkennen, wird immer schwieriger.
Im späten Stadium der Demenz ist nur noch ein Baumstumpf auf den Wurzeln vorhanden. Pflegebedürftigkeit und Kontrollverluste stehen im Vordergrund. Die Sprache der Betroffenen beschränkt sich auf Laute, die häufig zusammenhangslos eingesetzt werden. Hilflosigkeit nimmt zu, eine Betreuung rund um die Uhr ist angesagt. Seitens der Begleitenden können nonverbale Sprache, Berührungen, Redewendungen und vertraute Sprichwörter (siehe Anhang) unterstützend eingesetzt und Äußerungen gezielt herausgelockt werden. Das verschafft dem Menschen mit Demenz ein Persönlichkeitsprofil und stärkt sein Selbstwertgefühl.
Die Darstellung der »Fünf Säulen der Identität« nach Hilarion Gottfried Petzold (1992)1 dient der einfühlenden, verstehenden und unterstützenden Begleitung der Menschen mit Demenz. Unter Identität, lat.: identitas = Wesenseinheit, versteht man die Einzigartigkeit eines Lebewesens, insbesondere eines Menschen.
Identität ist ein lebenslanger Prozess und zeigt sich in Auftreten, Mimik, Gestik, Sprache, körperlichen Stärken und Schwächen und natürlich im inneren Selbstbild, Selbstgefühl und dem Glauben an sich. Identität entwickelt und verändert sich im Lebensverlauf. Demenz verursacht eine Identitätskrise.
Die Säulen der Identität werden durch den Verlauf der Erkrankung rissig, brüchig, sind kaum tragfähig und werden zeitweise gänzlich zerstört. Die Aufgabe besteht darin, diese Säulen zu stabilisieren, um so lange wie möglich die Individualität mit Lebensqualität zu füllen.
Abb. 1.2: Fünf Säulen-Theorie der Identität nach H. Petzold (1992)
Leiblichkeit – Die erste Säule »Leiblichkeit« ist durch die gehirnorganischen Veränderungen und körperlichen Eingrenzungen wenig zu beeinflussen.
Soziales Netz – Die zweite Säule »Soziales Netz« wird durch Scham und Isolation oft brüchig. Kontakte und Beziehungen verändern sich. Die Gesellschaft mit ihren Institutionen, Vereinen, Gruppen und deren kulturellen Angeboten sollte Menschen mit Demenz sowie deren Angehörige und Betreuende besonders berücksichtigen und integrieren, um Isolation zu vermeiden.
Arbeit, Leistung – Die dritte Säule »Arbeit – Leistung« wird zerbrechlicher. Gezielte Ergänzungen durch vertraute Abläufe, Aufenthaltsorte, gewohnte Tätigkeiten im Alltag sind einzuplanen. Das Miteinander-Tun wirkt stärkend und kann diese Säule besonders im ersten und zweiten Stadium stabiler und tragfähiger machen. Beim Miteinander-Tun sind Handlungsorientierung