mitgeschleift wurde, wurde er von einem der Schauspieler wie ein Kollege begrüßt: „Schön, Herr Sindelar, dass Sie auch mal nachschau’n kommen bei uns, wo wir doch jeden Sonntag heraußen bei Ihnen sind.“ Ein echter Fußballfreak war auch der Schriftsteller Albert Camus. Im Alter von 17 Jahren träumte der spätere Literat und Nobelpreisträger noch von einer Karriere als Fußballtorwart. Er war tief erschüttert, als eine Tuberkulose-Erkrankung seinen sportlichen Ambitionen ein plötzliches Ende bereitete. Später einmal von einem Freund gefragt, wofür er sich entschieden hätte, wenn es denn seine Gesundheit erlaubt hätte – für den Fußball oder fürs Theater – antwortete er: „Fußball, ohne zu zögern.“
Der Autor des „Mythos von Sisyphos“ empfand den Fußball als Schule des Lebens. „Ich lernte schnell, dass der Ball nie aus der Richtung kommt, aus der du ihn erwartest“, schrieb er 1957 in der Zeitschrift „France Football“. „Das half mir im Leben, vor allem in der Großstadt, wo die Leute auch nicht immer ganz und gar offen und ehrlich zu dir sind.“ Die Welt, so Camus weiter, habe inzwischen zwar viele Erlebnisse für ihn bereitgehalten, aber das, was er am sichersten über die Moral und die Verpflichtungen im menschlichen Dasein wisse, verdanke er ausschließlich seinem Sport. In diesem Sinne sei auch die (komplett überarbeitete) Neuauflage dieses Buches gerechtfertigt: Es verdankt sich nicht der aktuellen Mode, wonach jeder jetzt irgendwas zum Thema Fußball äußern muss, sondern einer jahrzehntelangen intensiven Auseinandersetzung; deren Ergebnis ist die Erkenntnis, dass es kaum etwas gibt, was so viel über die Geschichte des menschlichen Daseins erzählen kann wie der Fußball.
Wer am Fußball nur Freude haben will, braucht dieses Buch natürlich nicht zu lesen. Andererseits: Wer den Fußball liebt, beschäftigt sich ja sowieso unentwegt mit dem Spiel. Was schadet es da also, wenn man den Gesprächsstoff etwas erweitert. Und denjenigen, die bisher noch keinen Zugang zu diesem Massenphänomen Nr. 1 gefunden haben, können die folgenden Seiten vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen.
TEIL I
DAS SPIEL
IM STADION
Für die Zuschauer eines Bundesligaspiels beginnt das Match schon lange vor dem Anpfiff. Wenn sie von zu Hause aufbrechen zum Spiel, sind die meisten bereits von einer Nervosität und Erregung ergriffen, die sich auf dem Weg zum Stadion langsam steigert. Von überall her strömen die Leute zusammen, Busse und Bahnen füllen sich mit Gleichgesinnten. Fast hat es den Eindruck, als kenne am Spieltag die ganze Stadt nur ein Thema und ein Ziel: das Stadion. Das letzte Stück des Weges nehmen alle zu Fuß, und je näher man dem Ziel kommt, desto mehr gehen die einzelnen Gruppen auf in einer dichten Menge, die wie von einem Magneten in dieselbe Richtung gezogen wird. Offensichtlich erwarten sie sich dort etwas ganz Besonderes: Das, was der britische Romancier J. B. Priestley im Jahre 1928 schrieb – dass der Weg durch das Drehkreuz „eine andere und weit prächtigere Art des Lebens“ verspreche –, scheint auch 80 Jahre später nichts von seiner Gültigkeit verloren zu haben.
„Etwas sehr Sonderbares geht in jener engen Durchfahrtsstraße vor, die zum westlichen Teil der Stadt führt“, schrieb Priestley seinerzeit. „Was gerade jetzt so sonderbar scheint, ist, dass die Straße selbst überhaupt nicht zu sehen ist. Eine graugrüne Flut windet sich schwerfällig durch sie dahin. Es ist eine Flut von Stoffmützen.“ Diese Stoffmützen trugen einige Tausend Arbeiter aus den umliegenden Fabriken von Bruddersford, die für einen Schilling ihren Klub, den Vereinigten FC, im Stadion spielen sehen wollten. Damals war der Fußball ein festliches Ereignis für ein recht homogenes Zuschauerpotenzial. Es drängten fast nur Arbeiter ins Stadion, um das Spiel auf engen Stehrängen zu verfolgen, die unbequem waren und darüber hinaus den Nachteil hatten, dass einem die Vorderleute die Sicht auf das Spielfeld versperrten. Der kleine Teil von vornehmeren Leuten, die auf der Haupttribüne ihren Sitzplatz einnehmen sollten, fiel in dieser Masse kaum auf.
Der Schweizer Georges Haldas, Jahrgang 1917, wusste zu berichten, dass die Leute einst vor großen Spielen oft bereits am Morgen, wenn nicht gar am Vortag, um das Stadion herum kampierten. Der Schriftsteller selbst war vor jedem Spiel seines Vereins FC Servette Genf lange vor dem Anpfiff im „Buvette“ des Stadions „Les Charmilles“ zu finden, wo er sich auf das bevorstehende „Match“ einstimmte. Sodann begab er sich auf die noch leeren Ränge und setzte seine Vorbereitungen fort, betrachtete „die noch stillstehende Uhr mit den Namen der beiden sich bald gegenüber stehenden Mannschaften, nach der sich gegen den Schluss der Partie so viele von sonderbarer Angst erfüllte Blicke wenden werden, die einen, weil die letzten Minuten zu schnell verfließen … die andern, weil diese Minuten zu langsam vorbeigehen“. Die Zeit wird beim Fußball ganz verschieden erlebt, je nachdem, welche Mannschaft gerade führt, und je nachdem, für welche man zittert.
Wer Fan einer schlechten Mannschaft ist, muss sich wappnen für die zu erwartenden Enttäuschungen. So erging es Nick Hornby, der schon als Junge kein Spiel seines Vereins Arsenal London im Highbury-Stadion versäumte. „Natürlich hasste ich die Tatsache, dass Arsenal langweilig war“, schrieb er Jahre später in seinem Beststeller „Fever Pitch“. „Natürlich wollte ich, dass die Mannschaft Zillionen von Toren erzielte und mit dem Schwung und Nervenkitzel von elf George Bests spielte, doch das würde nicht passieren, jedenfalls nicht in absehbarer Zukunft.“ Und so bereitete er sich Spieltag für Spieltag auf die Seufzer und das Stöhnen seines neben ihm sitzenden Vaters vor. „Ich war an Arsenal und mein Dad an mich gekettet, und es gab für keinen von uns einen Ausweg.“ Vater und Sohn waren Arsenal-Fans, unentrinnbar, ihrem Team viel mehr verpflichtet als dem Spiel. 1969, als der grandiose George Best für Manchester United in Highbury zwei Tore erzielte, war es besonders schlimm. Hornby konnte sich über die von Best gezeigte Kunst nicht freuen. Der Mann stand in der falschen Mannschaft. „Jedesmal wenn er den Ball erhielt, jagte er mir Angst ein, und ich wünschte damals, genauso wie ich es vermutlich heute noch tue, dass er verletzt gewesen wäre.“ Beim Fußball geht es um was ganz anderes als im Theater. „Wer“, fragt Hornby, „würde eine teure Karte fürs Theater kaufen und hoffen, dass der Star des Stücks unpässlich ist?“
Manche mögen die „falschen“ Stars lieber nicht sehen; sicherlich aber kaufte sich auch ein Nick Hornby vor allem deswegen eine Karte, weil er – eben ganz anders als im Theater – vorher nicht wusste, welches Stück gegeben wird. Umgekehrt langweilte sich der Stückeschreiber Peter Handke wohl manchmal bei den Inszenierungen auf der Bühne. Dann ging er ins Stadion, wo wegen des ungewissen Verlaufs des bevorstehenden Ereignisses immer eine knisternde Atmosphäre herrscht. Die Situation unmittelbar vor Spielbeginn bezeichnete er als den „schönsten Augenblick“ eines Fußballspiels: „Alle halten den Atem an und schauen.“ Warten wir daher noch ein wenig mit dem Anpfiff. Schauen wir uns erst einmal um, wer alles ins Stadion gekommen ist.
„Noch in den Siebzigern waren die Stadien sehr übersichtlich aufgeteilt, in den Fanblock und die anderen“, schrieb das Fanzine „11 Freunde“ im Jahr 2001. „Wer singen und klatschen wollte, stellte sich zu den anderen, die singen und klatschen wollten. Und jeder Fanblock hätte die Idee wohl einigermaßen absurd gefunden, den Nebenmann zu fragen, was er denn bitte sei …“ Die Ersten, die schon in den 1960er Jahren auffielen, waren die Kuttenfans. Sie tragen Trikots des Vereins, den sie unterstützen, nietenbestickte Jeansjacken mit Aufnähern, dazu Mützen und Schals. Sie kommen in Fanklub-Gemeinschaften, feuern ihre Mannschaft lautstark an, begleiten sie zu Auswärtsspielen, liefern sich Sprechchor-Wettkämpfe mit den Fans des Gegners und unterstützen ihren Verein auch in schlechten Zeiten bedingungslos. Nicht zu verwechseln mit den Kuttenfans ist die kleine Gruppe der Hooligans, die seit den 1980er Jahren mit ihren Gewalttaten in die Schlagzeilen kamen. Diese Raufbolde mischen sich unauffällig unter die Zuschauer auf den Sitzplätzen und verabreden sich mit den Hools des Gegners zu Kämpfen. Seit den 1990er Jahren hat die in italienischen Stadien entstandene Ultra-Bewegung viele Anhänger gefunden. Die Italiener entwickelten eindrucksvolle Choreographien mit Fahnen, Transparenten, Papptafeln, Feuer und Rauch. In Deutschland fühlen sich die Ultras als die einzig unabhängigen und „echten“ Fans,