wollen dem Geschehen auf dem Rasen nicht nur zusehen, sondern durch ihre Art der Anwesenheit unmittelbar an ihm teilnehmen. Im Bestreben, ihre Mannschaft stimmgewaltig zum Sieg zu treiben, verstärken sie deren Kräfte. Ihr Anfeuern ist keineswegs umsonst: Mannschaften im eigenen Revier, wo sie von ihren Fans unterstützt werden, spielen meist wesentlich erfolgreicher als auswärts. Oft gelingt es den Fans, mit ihrem Enthusiasmus die Spieler auf dem Feld anzustecken. Sie schauen also nicht nur zu, sondern kommunizieren mit ihren Helden.
Vor allem die Fans sorgen dafür, dass am außergewöhnlichen Ort das sonst Verbotene, das zugleich so reizvoll ist, überhaupt möglich wird: massenhafter Fan-atismus. Durch die Leidenschaft, mit der sie ihre Mannschaft antreiben, auf dem Rasen das Spiel zu diktieren, fällt ihnen im Zuschauerrund eine Führungsrolle zu. Ihre Rituale wirken als emotionale Impulse auf die übrigen Zuschauer. Sie stimulieren den Rest des Stadions zum „richtigen“ Mitgehen. Erst wenn die Fans die Stimmung anheizen, brüllen auch die Zuschauer auf den Sitzen mit. Erst wenn die Fans eine „La-Ola-Welle“ inszenieren, heben auch die anderen ihren Hintern.
Durch die Aktivität der Fans werden müde Beine oft erst munter, der durchschnittliche Zuschauer hingegen erhebt sich in der Regel erst dann, wenn ihn das Spiel vom Sitz reißt. Zumindest ansatzweise verwandeln sich im Stadion jedoch nicht nur die Aktivisten auf den Stehrängen, sondern alle Zuschauer in „Fußballmenschen“. Niemand kommt hierher, um nur wie im Theater ruhig zuzusehen. Selbst der schweigsamste Einzelgänger auf dem ruhigsten Sitzplatz kann sich der Atmosphäre kaum entziehen. Im Gegensatz zum Theater, wo die Zuschauer der Bühne gegenübersitzen, bilden sie im Stadion einen engen, abgegrenzten Kreis um den riesigen Tisch des Fußballfeldes. Während alle sehen können, was unten auf dem Spielfeld vor sich geht, sitzen sie einander gegenüber und bannen sich so als Menge selbst. Erst diese Einkesselung bewirkt, dass sich die Gefühle gleichsam wie von selbst hochschaukeln. Jeder bemerkt die Erregung der anderen, die er gleichzeitig, weil die einzelnen Gesichter „verschwimmen“, nur als Masse wahrnehmen kann. Diese Unmöglichkeit, andere als Individuen wahrzunehmen, wirkt wie ein Sog. Nach und nach gehen alle mehr und mehr aus sich heraus, werden in die allgemeine Erregung hineingezogen, bis das „Ich“ mit all den anderen verschmolzen ist zu einem homogenen Etwas „mit eigenem Körper“. Und in den besten, den dramatischsten Momenten eines packenden Spiels ist es manchmal so, als ob die Zeit stehen bliebe.
Trotz aller Unterschiede und Trennungen kommt es im Stadion zu einer Vereinigung. Alle gehen mit, alle sind voll dabei und erleben gleichzeitig das Gleiche. Dieses von der Konzentration aller Energien auf ein Ziel geprägte Erleben, das verbunden ist mit einem Verlust der Selbstkontrolle und einer innerlichen Vereinigung mit der Umgebung, firmiert im psychologischen Newspeak unter der Bezeichnung „Flow“. Wenn die Aufmerksamkeit auf ein beschränktes Feld von Reizen konzentriert ist, wenn die Ziele eindeutig sind und die Rückmeldung unmittelbar erfolgt, wenn Körper, Handlung und Bewusstsein miteinander verschmelzen, dann ist ein Zustand des „reinen“ Erlebens erreicht, ein Zustand, bei dem man „im Tun aufgeht“. Obwohl die Theorie des Flow eher für die sportlich sich bewegenden Fußballer selbst erdacht ist – man denke an die Mannschaft, die sich „in einen Rausch“ spielt –, wäre es äußerst ungerecht, wollte man den Fans im Stadion dieses Gefühl des Fließens nur im Zusammenhang mit alkoholhaltigen Flüssigkeiten zugestehen.
Der „Feind“ ist Anlass für die Gefühlsvereinigung im Stadion. Und zugleich verhindert seine Anwesenheit, dass die anwesende Menschenansammlung gänzlich rund und kompakt wird. Es handelt sich, so Elias Canetti in seinem berühmten Werk „Masse und Macht“, um eine in einem Ring angeordnete „Doppelmasse“. Zwar ist die Auflösung der individuellen Atome in der Wärme gemeinsamer Emotion ausgelöst durch die Identifikation mit der Mannschaft, die auf ihrem eigenen Territorium antritt. Weil da aber auch noch eine andere Mannschaft auf dem Platz ist, verlängert sich der Kampf auf dem Rasen auf die Ränge, wo sich der kleine „Gästeblock“ wie ein militärischer Brückenkopf in die Menge hineingedrängt hat und sich mit den heimischen Fans harte Gefechte um die Beherrschung des Schallraums liefert. Wie in einem Echo wird der Lärm der einen von den anderen verlängert und umgekehrt, und im Wettstreit der Sprechchöre kann sich die Temperatur der Emotionen derart erhitzen, dass Außenstehende manchmal wirklich den Eindruck haben können, dieser explosive Sud könnte jeden Augenblick über die Ränder der Schüssel schwappen.
Wie sich die Stimmung entwickelt und wie sie sich entlädt, hängt freilich davon ab, welche Zutaten vor und während des Spiels beigemengt wurden. Sind die Fans der Klubs verfeindet, ist „Nieder mit den Schweinen“ angesagt, sind sie miteinander befreundet, dann kann es auch heißen: „Scheißegal, wer gewinnt. Hauptsache, die Stimmung ist gut.“ Auch während des Spiels ist grundsätzlich eine Entwicklung der einmal entfachten Begeisterung nach zwei Seiten hin offen: Zur Atmosphäre des fröhlichen Festes, die sich in einem vollen Stadion in einer „La-Ola-Welle“ zeigt, die das Rund wie selbstverständlich mehrmals durchläuft; oder zu der des „Ersatzkrieges“, in der sich die Feindseligkeit wie eine dunkle Wolke drohend über dem Geschehen zusammenbraut. Grundsätzlich gilt freilich: Jeder, der ins Stadion geht, will teilhaben an der Emotion der Masse, und die besteht eben in der Hauptsache aus denen, die im Stadion „zu Hause“ sind.
Natürlich sind nicht alle Stadien gleich. Nicht nur volle oder leere Ränge unterscheiden sie, sondern auch die Spielbeteiligung des Publikums, das sich in ihnen versammelt. In diesem Sinne sind die Spielorte Ausdruck nationaler Charaktere – Sambaklänge und leidenschaftliche Begeisterung in Brasilien, inbrünstige Gesänge in England –, aber vor allem auch des Selbstverständnisses und des „Charakters“ der Anhänger eines bestimmten Klubs. Das Publikum kann lasch oder ausgelassen, besonders fair oder besonders feindselig sein. Manche Stadien sind dafür berühmt geworden, dass in ihnen die „Gäste“ von den Emotionen der Zuschauer schier erdrückt werden. Diese Atmosphäre der Einkesselung schuf Mythen wie den „Roar“ von Wembley (London) oder Hampden Park (Glasgow): Während im Londoner „Gästehaus“ der englischen Nationalmannschaft der unnachahmliche Schrei „England“ Gänsehaut verursachte, fürchteten die Engländer selbst nichts so sehr wie das Riesenstadion in Glasgow. Dort wurde, wie der ebenfalls zum Mythos gewordene Stanley Matthews einmal meinte, „der Enthusiasmus der Menge in die Adern der schottischen Spieler eingespritzt“.
Zumindest einmal wurde der Hampden Park aber auch zum Synonym nicht für Kriegsgeschrei, sondern für ein fröhliches Fußballfest. „Das Stadion bot einen überwältigenden Anblick. Die Stimmung war großartig. Ein Jubelruf empfing die einlaufenden Mannschaften …“, begann der Journalist Peter Berger seinen Bericht über das Endspiel des Europapokals der Landesmeister 1960. Das große Real Madrid traf auf den Außenseiter Eintracht Frankfurt, der sich mit zwei tollen Halbfinal-Siegen gegen die Glasgow Rangers (6:1 und 6:3) gerade in Schottland viel Respekt verschafft hatte. Frankfurt zeigt auch gegen den Weltklassegeg ner im Finale zunächst keinerlei Hemmungen und erspielt sich Chancen gleich reihenweise. Dann geschieht, womit keiner gerechnet hat. „Es sind knapp 20 Minuten vergangen im Hampden-Park, da donnert der Beifall der weit über 100.000 Menschen für Eintracht Frankfurt los. Die Mannschaft aus Frankfurt am Main führt 1:0!“ Doch jetzt kommt Real und zündet ein Feuerwerk: di Stefano 1:1; di Stefano 1:2; Puskas 1:3. Pausenpfiff. Eintracht müht sich weiter, wieder gibt es einige Chancen, doch kein Tor. Die begeisterten schottischen Zuschauer feuern die tapferen Frankfurter immer wieder an. Doch alle Ermunterung nützt nichts. Real kontert, Gento wird im Strafraum gefoult, Puskas verwandelt zum 1:4. Das Spiel ist entschieden, aber Madrid fängt jetzt erst so richtig mit dem Spielen an. Es gibt technische Zaubereien und Traumkombinationen en masse. Es fällt das 1:5 durch Puskas, das 1:6, wieder durch Puskas. Die Frankfurter dürfen auch ein bisschen mitmachen, 2:6 durch Stein. Di Stefano ist sauer, schnappt sich vom Anstoß weg den Ball, dribbelt sich zum Frankfurt Tor durch, zieht ab – 2:7. Es folgt noch ein Geschenk der unaufmerksamen spanischen Abwehr, das Stein zum 3:7 nutzt. Als der Schiedsrichter abpfeift, bricht ein Beifallssturm los. Er steigert sich zum Orkan, als die Frankfurter Spieler klatschend Spalier bilden, um den großartigen Siegern Anerkennung zu zollen.
Normal ist solch eine allgemeine Begeisterung natürlich nicht. Normal war allerdings auch nicht das damalige außergewöhnlich schöne Spiel, und normal sind auch nicht Mannschaften wie das große Real. Fußball-Alltag ist vielmehr das aggressive Zelebrieren von Parteilichkeit für eher durchschnittliche Mannschaften. In der Bundesliga