Christoph Bausenwein

Geheimnis Fussball


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nach Frankfurt zu fliegen, um mit alten Sportskameraden wie Daniel Cohn-Bendit den gepflegten Flachpass zu üben. Aufgegeben hat er die Passion erst, als es wegen der mitgebrachten Leibwächter, die ihren Schutzauftrag auch auf dem Platz erfüllen wollten, zu Irritationen gekommen war. Den Frankfurter Ostpark-Kickern ähnliche Vereinigungen gab es – und gibt es bis heute – in zahllosen anderen Städten Deutschlands. Statt in den als „konservativ“ verschrienen Vereinen kickten die Linken und Grünen in „Bunten Ligen“. Überall wurde in phantasievoll benannten Teams – mit internationalem („Hinter Mailand“, „Fellatio Rom“), traditionellem („Herbergers Jünger“), oder, in Nürnberg/Fürth, mit lokalem Hintergrund („Schießbefehl Stadtgrenze“) – stümperhaft gekickt, unbeholfen gefoult und lautstark geflucht.

      Heute sind die meisten Protagonisten von damals wegen Altersschäden – Arthrose, lädierten Bandscheiben und Ähnlichem – vom aktiven Spielbetrieb zurückgetreten. Geblieben ist das Spiel und damit für alle Jüngeren und körperlich Unversehrten die Möglichkeit, im Verein oder in freier Vereinigung nach den Gesetzen der FIFA einem Ball hinterherzurennen. Die 17 Regeln des Fußball-Weltverbandes sind so einfach wie eh und je und gelten immer noch, trotz der zahlreichen neuerdings entstandenen Fußball-Varianten, als „Bibel“ des Fußballspiels. Sie definieren die formalen Voraussetzungen des Spiels (Anzahl der Spieler, Ausrüstung, Spielfeld, Spielzeit), legen die Entscheidungsfindung fest (Torerfolg) und regeln die Durchführungsbestimmungen bei Spielunterbrechungen. Sie schreiben lediglich den Rahmen des Spiels vor und haben – mit Ausnahme der Regel XI (Abseits) – keinen unmittelbaren Einfluss auf seinen Ablauf. Um nachvollziehen zu können, was auf einem Fußballplatz geschieht, ist es nicht nötig, diese Regeln auswendig zu lernen; es genügt, wenn man sich drei Dinge klarmacht: die Idee des Spiels, die Funktion der so genannten „Standardsituationen“ und die Rolle der Abseitsregel.

      Ausgangspunkt ist die Grundidee eines frei fließenden Spiels zwischen zwei Mannschaften, die unter Verzicht auf den Gebrauch der Hände versuchen, den Ball im Tor des Gegners unterzubringen; durch die Standardsituationen wie Einwurf, Eckstoß und Freistoß muss lediglich sichergestellt werden, dass das Spiel nach Unterbrechungen auf die einfachst mögliche Weise fortgesetzt werden kann; die Abseitsregel schließlich – ein Spieler darf sich den Ball in der gegnerischen Hälfte nur dann zuspielen lassen, wenn sich im Augenblick des Abspiels zwischen ihm und dem gegnerischen Tor noch wenigstens zwei Spieler des Gegners befinden – zwingt die Akteure zu einem geordneten Verhalten auf dem Feld und sorgt gleichzeitig dafür, dass ein Torerfolg nur mit spielerischer Intelligenz erzielt werden kann.

      Wie sich zeigt, sind die Regeln des Fußballspiels so einfach und leicht verständlich, dass noch der Dümmste sein Prinzip kapieren kann. „Fußball selbst ist ja geradezu primitiv: Tore verhüten, Tore schießen, das ist alles“, so der als Intellektueller verschriene Fußballtrainer Dettmar Cramer. Kompliziert scheint allein die Abseitsregel zu sein. Darum sei – in den Worten des Ex-Profis Stefan Lottermann – für etwaige Laien unter der Leserschaft noch etwas ausführlicher erläutert, warum sie für das geregelte Spiel auf genormtem Platz so bedeutsam ist: „Die Abseitsregel verhindert ein Spielverhalten analog zu Spielen wie zum Beispiel Handball und Basketball, die eine solche Bestimmung nicht kennen. In diesen Sportspielen läuft das Spielgeschehen vornehmlich vor dem Tor bzw. unter dem Korb ab, der Raum dazwischen ist ohne größere strategisch-taktische Bedeutung. Im Fußball ist es gerade der große Aktionsraum zwischen den beiden Toren, der eine erhebliche strategisch-taktische Dimension innehat. Durch die Abseitsregel ist es den Spielakteuren nicht möglich, sich unabhängig von der Position der Gegenspieler auf dem Spielfeld zu bewegen, zu verteilen und einen bestimmten Spielfeldabschnitt anzusteuern oder besetzt zu halten, außer man befindet sich in der eigenen Spielhälfte, in der die Abseitsstellung aufgehoben ist.“

      Fußball ist ein simples Spiel. Die Abseitsregel ist zwar etwas komplexer, aber auch diese versteht auf der ganzen Welt jeder einigermaßen normal begabte Mensch. „Kehrte Robinson Crusoe zurück“, so schrieb der Rhetorik-Professor Walter Jens, „er könnte seinem Gefährten die englische Sprache am Beispiel der Abseitsregel erklären. Undenkbar, dass Freitag nicht wüsste, was ‚auf gleicher Höhe’ bedeutet!“ Wer selbst gespielt hat, versteht sie sowieso. Denn man weiß bei jedem Angriff, dass man nicht ungeordnet vorgehen kann. Viel hängt beim Fußball auch von spontanen Einfällen ab, aber durch die Abseitsregel kommt ein Moment hinein, das den Spielern eine Planung ihres Vorgehens zwingend abverlangt. Vielleicht verschafft dem Fußball ja bereits diese in den Regeln angelegte Dialektik von Plan und Spontaneität einen Großteil jener Faszination, die ihn zum einzigen auf der ganzen Welt gültigen Zeichensystem machte. Weder die genannten Abarten des Fußballs noch andere Ballsportarten haben auch nur ansatzweise jene Popularität erreicht, der sich bis heute der „richtige“ Fußball erfreut.

      Daran, dass der Fußball unkompliziert ist und unter minimalsten Voraussetzungen gespielt werden kann, besteht demnach kein Zweifel. Ein ganz anderes Bild bieten da Rugby und American Football, die sich vom Fußball nicht nur durch einen wesentlich geringeren Anteil des Spiels mit dem Fuß, sondern vor allem durch die enorme Komplexität der Regeln und der damit zusammenhängenden voraussetzungsvollen Spielbedingungen unterscheiden. So nimmt in einem Regelbuch über Rugby allein die Beschreibung des Gedränges („scrummage“) vier Seiten ein, und zur Regelung des Abseits heißt es: „Wollte man alle Möglichkeiten aufzählen, die es gibt, um im Rugby abseits zu sein, bräuchte man gewiss mehr Seiten, als dieses Buch umfasst“ (was dann offensichtlich heißt: mehr als 120). Noch komplexer sind die Verhältnisse beim American Football, bei dem der Aktive so viele Regeln kennen und beachten muss wie bei keiner anderen Sportart. Dies allein macht schon deutlich, dass das Grundprinzip beider Sportarten nur unter zahlreichen Bedingungen zum Tragen kommen kann. Rugby und Football können nur auf einem großen und entsprechend genormten Feld gespielt werden, eine bestimmte Anzahl von Spielern ist notwendig, damit die für das Spiel notwendigen Funktionen auch ausgefüllt werden können, schließlich sind beide Spiele an besondere physische Voraussetzungen (Schwere, Kraft, Schnelligkeit) gebunden, und zuletzt sind sie auch noch so gefährlich, dass sie kaum zu einem erholsamen Freizeitsport taugen.

      Da Rugby und Football um so viel komplizierter und anspruchsvoller sind als Fußball, werden sie auch von vergleichsweise wenigen Menschen aktiv ausgeübt. Völlig erfolglos sind sie deswegen freilich noch nicht. Gerade die Gefahr, die Unmittelbarkeit der kämpferischen Auseinandersetzung, macht wohl viel von dem „Thrill“ aus, der sie unter den besonderen Bedingungen der angloamerikanischen Länder zu vielbeachteten Zuschauersportarten hat werden lassen. Die Komplexität der Regeln eines Sports schließt demnach einen Erfolg beim Sportpublikum nicht aus, begrenzt ihn aber offensichtlich in der geografischen und sozialen Wirkungsbreite. Der geradezu grenzenlose Erfolg des Stadion- und insbesondere des Fernsehfußballs hängt also vermutlich davon ab, dass die Zuschauer jedes Spiel, das sie sehen, „im Prinzip“ auch selbst spielen können. So groß die Kluft zwischen Anfängern, Durchschnittsspielern und Könnern auch sein mag – die Distanz bleibt immer so gering, dass jeder noch so unbegabte Hobbyspieler unmittelbar nachvollziehen kann, was die Stars auf dem Rasen im Stadion zelebrieren. So groß der Unterschied zwischen Profi und Freizeitkicker hinsichtlich Athletik, Kondition, taktischer Disziplin, Schusskraft und technischer Perfektion auch sein mag – die besonderen „Gesetze“ des Fußballs sorgen dafür, dass beide immer einander nahe bleiben. Sogar den berühmtesten Spielern unterlaufen zuweilen anfängerhafte Fehler, während andererseits selbst der ungeschicktesten Altherrenmannschaft hin und wieder ein nahezu perfekter Spielzug gelingt. Deshalb dürfen die „Experten“ im Stadion oftmals nicht ganz zu Unrecht bemerken, dass sie vieles von dem, was da passiert „auch noch gekonnt hätten“.

      Es scheint also durchaus berechtigt, wenn alle Kenner des Fußballs den Erfolg des Spiels damit begründen, dass es in jeder Hinsicht extrem „einfach“ sei – einfach zu verstehen, einfach zu spielen, einfach nachzuvollziehen. „Das ‚Geheimnis‘ um den Fußballsport“, so beispielsweise der DFB-Historiker Carl Koppehel, „ist leicht gelüftet. Fußball ist ein im Grunde sehr einfaches Spiel und in der Ausübung billig. Es ist leicht verständlich, die Spielregeln sind frei von erschwerenden Vorschriften, die Wertung ist unkompliziert.“ Wäre diese Feststellung ausreichend, wäre der Fußball also tatsächlich nur „herrlich einfach“ und schon allein deshalb „einfach herrlich“, dann könnte man sich jede weitere Ausführung sparen und diese