des Fußballs, müsste man im Umkehrschluss folgern, dass sämtliche anderen Sportarten allein deswegen weniger Erfolg hatten und haben, weil sie komplizierter bzw. voraussetzungsvoller sind als der Fußball. Das mag im Fall von Football und Rugby richtig sein, auf viele andere – ja sogar die meisten – Ballsportarten trifft es aber nicht zu.
Nichts berechtigt beispielsweise zu der Annahme, dass das Handballspiel (sofern es im Freien gespielt wird) „im Prinzip“ mehr Voraussetzungen benötigt als das Fußballspiel; um Basketball zu spielen, braucht man zwar ein paar Voraussetzungen mehr (der Ball muss extrem sprungkräftig und der Boden muss hart sein), trotzdem kam diese Sportart anfangs mit nur 13 Regeln aus; auch beim Volleyball genügt ein leichter Ball und eine zwischen zwei Stangen gespannte Schnur, um mit dem Spiel beginnen zu können. Das Argument der Einfachheit kann also allenfalls erklären, dass sich der Fußball so schnell und so leicht verbreiten konnte, nicht aber, dass ausgerechnet er und er allein zu einem Massenphänomen wurde. Wer das Geheimnis des Fußballs lüften will, muss also schon etwas größere Begründungs-Anstrengungen auf sich nehmen. Sein Erfolg beruht allem Anschein nach auf Eigenschaften, die nicht so einfach zu erklären sind. Das Spiel muss irgendetwas an sich haben, was es „unvergleichlich“ macht – sonst wäre der Reiz, den es auf Millionen, ja Milliarden von Menschen ausübt, nicht zu erklären.
Während andere Spiele offensichtlich nur komplex oder nur einfach sind und nur für Zuschauer oder nur für aktive Spieler Reize besitzen, scheint beim Fußball ein schlichter Anlass so komplexe Wirkungen nach sich zu ziehen, dass das Spiel vielfältigsten Ansprüchen zu genügen vermag. Um dem Phänomen Fußball auf die Spur zu kommen, genügt es also nicht, nur die Regeln zu kennen. Man muss den Kern des Spiels in den Blick nehmen.
Zunächst und vor allem ist es der scheinbar primitive Vorgang des Tretens, der eine überraschende Vielfalt der Spielmöglichkeiten entfaltet. Der Fußball und seine Varianten wie Futsal sind die einzigen Spiele, bei denen das Bewegen des Balles mit dem Fuß zur Regel gemacht wird. Selbst diejenigen Spiele, die „Football“ genannt werden (American Football, Rugby Football), sind ja im Grunde genommen eher Handballspiele, denn auch bei ihnen basiert der Ablauf des Spiels auf dem Tragen, Werfen und Fangen des Balles. Es scheint von daher nicht nur ein bloßer Zufall zu sein, dass all die Ballspiele, bei denen der Ball mit der Hand oder durch deren Verlängerung – mit einem Schläger – in Bewegung gesetzt wird, einen weitaus geringeren bzw. nur regional bedeutsamen Erfolg haben. Wäre dieser einzigartige „Fuß-Fall“ der Ballspiele nur eine Angelegenheit weniger Sonderlinge, die tun, was sonst verboten ist, und die Nein sagen zu allem, was normalerweise erlaubt ist, so wäre das Ganze wohl kaum einer Erwähnung wert. Tatsache aber ist, dass der Fußball den anderen Ballspielen nicht nur den Ball, sondern ganz offensichtlich auch die Gesetze des Erfolgs aus der Hand genommen hat. Und da international nicht irgendein Fußball erfolgreich ist, sondern der nach den FIFA-Regeln betriebene, liegt die Vermutung auf der Hand, dass dieser auf Regeln fußt, die – um das Wortspiel zu Ende zu bringen – „Hand und Fuß“ haben.
Verzichtet man darauf, ein Spiel unter den genormten Bedingungen eines offiziellen Wettkampfs auszutragen, so braucht man nicht einmal die FIFA-Regeln zu kennen. Ein Fußballspiel kommt bereits zustande, wenn man lediglich die zwei Grundverbote beachtet: das Verbot des Handspiels (mit Ausnahme des Torwarts) und das Verbot des Foulspiels (getreten werden darf nur der Ball, nicht der Gegner). Wird nur zum Spaß gespielt, so reduzieren sich die Voraussetzungen des Fußballspiels nahezu auf null. An materiellen Bedingungen sind lediglich zwei Mannschaften, ein Spielplatz mit zwei Toren sowie ein Ball erforderlich. Die Anzahl der Spieler ist gleichgültig, man kann auch fünf gegen fünf spielen oder zwölf gegen zwölf, sogar ein Spiel eins gegen eins ist möglich oder eines mit ungerader Teilnehmerzahl, wenn es unterschiedliche Spielerqualitäten auszugleichen gilt. Ein richtiges Spielfeld ist nicht unbedingt nötig, es genügt schon eine holprige Rasenfläche, notfalls auch ein Stück freien Platzes im Hinterhof oder auf einer wenig befahrenen Straße, und wenn der Raum gar zu knapp ist, kann man sogar auf dem Dach kicken – wie in La Valetta (Malta) oder auf Hochhäusern im dicht besiedelten Japan. Als „Ball“ kann zur Not auch eine Blechbüchse oder irgendein anderer unförmiger Gegenstand dienen, sofern sich dieser nur mit den Füßen kicken lässt. Zur Markierung der Tore genügen Schultaschen, ein paar Zweige oder Steine. Das Spiel kostet also so gut wie nichts und kann praktisch unter allen Bedingungen gespielt werden.
Diese materielle Voraussetzungslosigkeit des Fußballs wird noch dadurch ergänzt, dass nicht einmal die Akteure selbst eine besondere physische Konstitution mitbringen müssen. Egal, wie groß, wie stark, wie alt oder wie sportlich jemand ist: Jeder kann prinzipiell mitspielen. Selbst der Verlust eines Arms muss nicht verhindern, im Fußball ein Großer zu werden. Der einarmige Hector Castro, Torschütze beim 4:2 Uruguays im Finale 1930 gegen Argentinien, war einer der besten Stürmer seiner Zeit. Und der bei einem Autounfall versehrte Robert Schlienz, die „einarmige Legende“ des VfB Stuttgart, brachte es zum Deutschen Meister und Nationalspieler. Umgekehrt muss man beim Fußballspiel selbst kaum befürchten, schwerwiegend verletzt zu werden. Denn wird dieser Sport der Grundregel gemäß betrieben, dann wird nur der Ball, nicht aber der Gegner getreten, dann gelten Angriffe nicht dem Körper, sondern werden mit dem Ball am Fuß vorgetragen. Deswegen müssen auch die Eltern keine Angst haben um die Kinder, die draußen auf dem Bolzplatz einem Ball hinterherjagen und dabei die großen Stars des Spiels imitieren.
Einer alten Legende zufolge besteht zwischen den Bolzereien der jugendlichen und den Meisterspielen der erwachsenen Kicker ein unmittelbarer Zusammenhang. Einst haben alle großen Stars ganz unten angefangen: auf den Straßen, in Sackgassen, in Garagen- und Hinterhöfen, auf Wiesen in Parks und auf brachliegenden Flächen in Industriegebieten. Weil dieser „Urfußball“ anscheinend überall der gleiche ist, kann noch jedes Kind, das irgendwo gegen einen Ball tritt, davon träumen, den größten aller Kicker auf ihrem Weg von den dunklen Ecken der Großstädte ins Rampenlicht der Sportarenen nachzufolgen. Pelé genügte eine mit Lumpen und Zeitungspapier ausgestopfte Männersocke, um sich auf den staubigen Straßen des brasilianischen Provinzkaffs Baurù jene Fußballvirtuosität anzueignen, die ihm den Ruhm des größten Kickers aller Zeiten einbrachte. Max Morlock, bester deutscher Torschütze bei der WM 1954, trainierte seine Treffsicherheit als Knabe mit einem aus Stoffresten zusammengefügten „Flecklesball“, den er unentwegt auf die Kellerfenster eines Mietshauses drosch, und neben diesem Sommersport des „Kellerfensterlns“ übte er des Winters seine koordinativen Fähigkeiten auf der zugefrorenen Fläche eines Teiches im „Eisfußball“, der, wie er noch als Weltmeister betonte, „Krone aller Sportarten“.
In den 1980er Jahren setzte hierzulande zunehmend die Kritik ein, dass der Mangel an tauglichen deutschen Kickern in Bundesliga und Nationalteam vor allem auch auf das Aussterben der Straßenfußballer zurückzuführen sei. Da die jungen Spieler zu früh auf dem großen Spielfeld stromlinienförmig auf Kampf, Kondition und Schnelligkeit getrimmt würden, versäumten sie es, sich die notwendige Grundlagen-Technik anzueignen, die man nur auf der Straße lerne. „Als ich mit 13 Jahren zu einem Spitzenverein kam, hatte ich aus täglich sechs Stunden Straßenfußball alle Technik dieser Erde intus“, meinte der Erfolgstrainer Ernst Happel: „Heute kommen Spieler zum Training, die können nicht einmal einen Stuhl umspielen.“ Der Ruhrpott-Kicker Olaf Thon, Mitglied des WM-Kaders von 1990, gilt als letzter Vertreter des klassischen Straßenfußballers aus deutschen Landen. Deutschland wurde Weltmeister, den schönsten Fußball aber spielte ein Team von ehemaligen Straßenfußballern. Mitten in Douala, einer Stadt in Kamerun, gibt es, einer Verkehrsinsel gleich, einen kleinen, holprigen, dreiecksförmigen Bolzplatz, auf dem sechs gegen sechs gespielt wird. Diesem „Spielraum“ wurden magische Kräfte zugeschrieben: Mindestens fünf Spieler der Nationalmannschaft, die in Italien so begeisterte, sollen unter diesen außergewöhnlichen Umständen die Kunst des fintenreichen Dribblings erlernt haben.
Der Straßenfußball prägte auch das französisch-algerische Ballgenie Zidane. In La Castellane, dem Ghetto der maghrebinischen Einwandererfamilien in Marseille, übte er auf einem betonierten Platz all jene Tricks, die ihn später berühmt machen sollten. „Alles, was ich gelernt habe, stammt aus dieser Zeit“, schrieb er in seiner Autobiografie. Derjenige, der einen neuen Trick entdeckt hatte, musste ihn den anderen zeigen. So hatte sich auch der kleine und schmächtige „Yazid“, wie er damals gerufen wurde, viele Tricks ausgedacht und sich gegenüber