Christoph Bausenwein

Geheimnis Fussball


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„FIFA-Magazine“, „manchmal mit einer Zitrone, manchmal gar mit Steinen.“ Ersten Anschauungsunterricht, dass man auch ohne schweres Fußgerät kicken kann, erteilte der Brasilianer Leonidas den grobbeschuhten Europäern während der WM 1938. Als während der zweiten Halbzeit im Spiel gegen Polen der Regen herniederprasselte, zog er einfach die Fußballschuhe aus, um von den durch die Nässe schwer gewordenen Ledergewichten nicht behindert zu werden. Ein FIFA-Beauftragter nötigte ihn schnellstens dazu, sie wieder anzuziehen, so dass das Experiment folgenlos blieb. Folgenlos blieben auch die Tourneen einiger nigerianischer Barfuß-Spieler im England der 1940er Jahre. Und die Inder verzichteten freiwillig-unfreiwillig auf die Teilnahme an der WM 1950, als sie hörten, dass das Tragen von Fußballschuhen Pflicht sei. Solche klobigen Dinger wollten sich die lediglich mit Bandagen ausgestatteten Ballstreichler aus dem Land der Fakire nicht antun.

      Es war aber dann dennoch ein Kulturaustausch, der die Europäer vom grobschlächtigen Kappenschuh abkommen ließ. Ende der 1940er Jahren staunte der spätere Meistertrainer Max Merkel, damals Verteidiger in Diensten von Rapid Wien, während einer Tournee in Südamerika über die dort verwendeten leichten „Mokassins“, die ersichtlich eine bessere Balltechnik ermöglichten. 1950 beobachtete die englische Fußball-Legende Stanley Matthews bei der Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro die Brasilianer, und auch ihm fiel, neben der virtuosen Kunst der Spieler, das Schuhwerk auf. Die Schuhe waren leicht, aus dünnem Leder gefertigt, stromlinienförmig geschnitten und boten, da der Knöchel frei blieb, viel mehr Bewegungsfreiheit als die schweren und klobigen englischen Stiefel. Matthews war begeistert, kaufte ein Exemplar und spielte fortan, nachdem er sein Mitbringsel „verbraucht“ hatte, nur noch in „Mokassins“, die er sich von einem Schuhmacher nach dem brasilianischen Vorbild fertigen ließ.

      Matthews’ Schuhe waren im England der 1950er Jahre eine Revolution, allein schon wegen ihres geringen Gewichts. Die ersten gegen Ende des 19. Jahrhunderts konstruierten speziellen Fußballstiefel, die wegen des damals noch üblichen Stoßes mit der „Pike“ an der Spitze durch eine Stahlkappe verstärkt waren, wogen rund 600 Gramm. Nach der Gewichtsreduzierung durch ein im Jahr 1914 herausgebrachtes Modell auf 545 Gramm hatte sich nicht mehr viel getan. Die nächste Revolution auf dem Sportartikel-Markt erfolgte erst 1954 durch Adolf Dassler, als er mit seinem berühmten Schraubstollen-Modell einen entscheidenden Beitrag lieferte zum legendären 3:2-Sieg Deutschlands über Ungarn auf dem glitschigen Geläuf des Berner Wankdorfstadions. Doch nicht nur die Stollen waren entscheidend: Dasslers Schuhe wogen mit 380 Gramm über ein Drittel weniger als die damals in England üblichen „Hotspur“-Schuhe. Adidas wurde bald zur internationalen Top-Marke. 1966 gewannen die Engländer gegen Deutschland in den – nun auch mit elastischen Sohlen ausgerüsteten – Wundertretern aus dem fränkischen Herzogenaurach. Aber auch diese Schuhe waren immer noch ungefähr doppelt so schwer wie die heutigen. Im dritten Jahrtausend wird mit luftigen Schühchen gekickt, die gerade mal noch 150 Gramm – und damit nur noch ein Viertel der Ungetüme von einst – auf die Waage bringen.

      Sepp Herberger hat davon geträumt, einmal einen Schuh unter 300 Gramm zu bekommen. Er konnte sich ausrechnen, wie wichtig das Gewicht ist. Denn ist ein Fußballschuh nur um 100 Gramm leichter, so bedeutet dies bei einem Paar schon 200 Gramm. Geht man nur von rund 10.000 Schritten aus, die in 90 Minuten bewältigt werden, so kommt man bereits auf zwei Tonnen, die ein Spieler pro Spiel weniger bewegen muss! Allein schon die Reduzierung des Gewichts führt also zu einer größeren Leichtfüßigkeit. Noch wichtiger ist aber sicherlich die größere Beweglichkeit im Fuß, die ein leichter, wie eine zweite Haut angepasster Schuh gewährt.

      Stanley Matthews hatte als Erster erkannt, dass sich nur mit entsprechenden Schuhen die ganzen Möglichkeiten fußballerischer Techniken entfalten lassen. Als leichtere Schuhe allgemein zur Verfügung standen, entwickelten immer mehr Fußballer ein besonderes Verhältnis zu ihrem Schuhwerk. Sie konnten gar nicht bequem und zugleich eng genug sein. Solange die Schuhe noch aus recht grobem Leder gefertigt waren, war es üblich, in die neuen Treter hineinzupinkeln und sie dann feucht einzulaufen, um ihnen eine perfekte Passform zu verleihen. Einer wie Stuttgarts „Buffy“ Ettmayr schwor in den 1970er Jahren sogar auf im wahrsten Sinne des Wortes „eingelaufene“ Schuhe. Er trug seine „Arbeitskleidung“ grundsätzlich zwei Nummern kleiner. „Ich wollte immer ein Kondom an den Füßen haben, sonst hast du ja doch kein Gefühl“, begründete er seine Marotte. Und hatte sich ein Spieler mal an ein Paar gewöhnt, behielt er sie so lange am Fuß, wie es nur ging. Als Bobby Breuer zum Puma-Verein Bayern Hof wechselte, wollte er weiterhin in den gewohnten Adidas-Schuhen kicken. Betreuer Andres Högen musste die Streifen abmachen und das Puma-Logo aufnähen. Irgendwann probierte er die Raubtier-Schlappen aus Känguru-Leder dann doch einmal aus, und da waren sie ihm so angenehm, dass er sie 1972 bei seinem Wechsel nach Innsbruck unbedingt mitnehmen wollte. In Puma-Schuhen spielte auch Lothar Matthäus. Nur in der Nationalmannschaft musste er, weil der DFB einen Ausrüster-Vertrag mit der Konkurrenz hatte, mit Adidas-Schuhen spielen. Seit der WM 1986 trug er in Länderspielen immer dasselbe Paar. Bis zum Endspiel 1990. Da brach an seinem altgedienten und lange bewährten rechten Schuh ein Stollen ab. Das hatte ungeahnte Konsequenzen: Weil er sich in dem rasch herbeigeschafften Ersatz noch völlig gefühllos wähnte, verweigerte er, obwohl als Schütze vorgesehen, die Ausführung des entscheidenden Elfmeter-Stoßes. Andreas Brehme, offensichtlich mit alten und vertrauten Tretern ausgerüstet, übernahm die Aufgabe und traf.

      Selbst die vertrautesten und besten Schuhe verhelfen ihrem Träger natürlich nicht automatisch zu perfekter Balltechnik. Der Ball bleibt ein eigenwilliges Objekt, das sich nicht jedem fügt. Jeder, der einmal Fußball gespielt hat, weiß, wie schwer bereits das kleine Einmaleins des Spieles – das Stoppen und Kontrollieren des Balles – zu erlernen ist. Weil der Fußballspieler den Ball nicht fangen darf, hat er ihn nie vollständig unter Kontrolle und kann also nur versuchen, ihn unter Aufbietung aller körperlichen Geschicklichkeit zu bändigen. Statt den Ball zu greifen, muss er seine Eigengesetzlichkeit be-greifen. Er muss sich in den Ball gleichsam „hineinversetzen“ und sich seiner Bewegung anschmiegen. Bei der Ballannahme darf der Spieler die Eigenbewegung des Balles nicht brechen, sondern er muss sie wahrnehmen, antizipieren, aufnehmen und umleiten. Der Fuß muss dem hoch oder flach einfallenden Ball entgegengeführt und noch vor dem Moment des Auftreffens im richtigen Tempo zurückgenommen werden, so dass ihm die Wucht genommen wird. Nur dann, wenn der Spieler auf diese Weise der Bewegung des Balles entgegenkommt und sie gleichsam verlängert, kann das „runde Leder“ für einen Augenblick so gezähmt werden, dass es spielbereit vor den Füßen liegen bleibt.

      Erkennt ein Spieler den Ball nicht als einen Spielpartner an, der viel Gefühl verlangt, so verweigert der sich im spröden Zurückprallen. Schlechten Spielern springt er immer wieder vom Fuß, guten Spielern hingegen gelingt es sogar, den Ball mit der sanft mitschwingenden Oberseite des Fußes wie in einem Daunenkissen aufzufangen. So lässt sich bereits bei der Ballannahme erkennen, wer mit dem Ball umgehen kann und wer mit ihm auf Kriegsfuß steht. Während Spieler wie Maradona und Pelé den Ball annehmen und führen können, als ob sie Magneten an den Füßen hätten, gibt es andere, „bei denen man weinen möchte“, so der Meistertrainer Max Merkel, weil sie „sich den Ball mit ‚Uhu‘ an die Füße kleben müssten, um ihn nicht zu verlieren.“ Doch selbst den Allergrößten unterlaufen immer wieder scheinbar anfänger-hafte Fehler – was nur beweist, dass die Fußbeherrschung von Natur aus weit schwieriger ist als das Fangen und Werfen mit der Hand.

      Wenn ein argentinischer Journalist in eigenartiger Ausdrucksweise von Maradona behauptete, dass er „Hände an den Füßen“ habe, so traf er das Wesentliche nicht. Denn beim Fußball geht es nicht darum, aus dem Fuß eine Hand zu machen, sondern die speziellen Möglichkeiten des Fußes gegenüber der Hand voll zu entfalten. Der Fuß ist ein recht kompliziertes, aber außerordentlich bewegliches und elastisches Gebilde, das man zu weit mehr als nur zur Fortbewegung nutzen kann.

      Während die spezifischen Fähigkeiten der Hand durch die Finger und nicht durch die Handwurzel gegeben sind, liegen die Verhältnisse beim Fuß genau umgekehrt. Die Zehen können zwar auch gestreckt und gebeugt werden, doch die Beweglichkeit des Fußes ist vor allem durch die in der Fußwurzel liegenden Sprunggelenke gewährleistet. Das obere Sprunggelenk verbindet das über dem Fersenbein liegende Sprungbein mit den beiden Unterschenkelknochen. Die unteren Teile von Schien-und Wadenbein, die durch eine feste Bandverbindung zusammengefügte Knöchelgabel, umklammert