seinen mächtigen Schritten der Boss herbei. Jetzt, jetzt – aus vollem Lauf heraus muss er schießen, dachten wir. Auch das Publikum wartete darauf. Die Verteidiger starrten wie hypnotisiert auf Helmuts rechten Fuß und warfen sich in die vermeintliche Schussbahn. Doch was machte Rahn, der links so gut wie rechts schießt? Im entscheidenden Sekundenbruchteil bremste er ab, nahm den Ball mit dem rechten Fuß an und zog ihn mit einer Körpertäuschung nach links. Er suchte sich eine Lücke aus und donnerte aus 17, 18 Metern mit dem linken Fuß in die linke untere Torecke. Keine Chance für Ungarns Schlussmann! Diesen flachen, scharfen Ball konnte er nicht erreichen. Grosits am Boden! Helmut am Boden! Mehrere Abwehrspieler am Boden! Das war die Sekunde, in der Rahn das Tor seiner Tore schoss, die Sekunde, in der es Herberger von der Bank hochriss. Die Sekunde, die die Ungarn wie ein Blitz traf, in der die Entscheidung fiel, in der Fußball-Deutschland in eine nie erlebte, unvergessliche Ekstase geriet. ‚Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland!‘, schrie heiser vor Erregung Rundfunk-Kommentator Herbert Zimmermann in sein Mikrofon.“
Zwei Minuten später rief Zimmermann fünfmal „Abseits!“, als es hinter Toni Turek eingeschlagen hatte. „Der Zufall wollte es“, so Zimmermann später, „dass zwischen Puskas und mir genau Linienrichter Griffith stand. Sein Winken war für mich zu erkennen, noch bevor Puskas schoss. So war mein Abseitsruf wohl eine Erlösung für alle Hörer. Dann noch zwei Minuten Daumendrücken, ein Flachschuss von Czibor, eine Parade von Turek, und aus war das Spiel.“
So war das also. Das heißt, nicht ganz. Denn neben der Freude der Deutschen gab es ja noch die andere Seite, die Trauer der Ungarn. Jenö Budzansky (bzw. Buzanszky) leidet bis heute unter dem von Fritz Walter verbreiteten Gerücht, er habe durch eine Nachlässigkeit Schäfers Flanke verursacht. Buzanszky war rechter Verteidiger. Links aber stand ein anderer: „Bozsik war’s, Bozsik“, musste sich Buzanszky noch als 80-Jähriger verteidigen. Und der Torwart, Grosits (bzw. Grosics)? In einem Interview im Juli 2005 sagte er: „Ich zähle nicht mehr, wie oft ich davon träume. Ich habe dieses Spiel hunderttausendmal gespielt, ich sehe Helmut Rahns Schuss zum 3:2 und meine Hand. Es kommen Millionen Variationen heraus, was wir besser hätten machen können. … Es ist hoffnungslos. … Es ist nie etwas gekommen, was mich über dieses 2:3 hätte hinwegtrösten können. Wir haben verloren, es schmerzt heute noch, und es wird immer wehtun.“
Es schmerzt, weil es eigentlich nicht zu begreifen ist, wie diese Mannschaft geschlagen werden konnte. Eine Mannschaft, die zuvor 34 Spiele lang ungeschlagen war und danach weitere 18 Spiele unbesiegt bleiben sollte. Nach dem verlorenen Spiel herrschte in Ungarn lange Zeit der Glaube, dass jene „goldene Mannschaft“ mit sauberen Mitteln unmöglich zu schlagen gewesen sei. Es wurde behauptet, dass die Spieler den Sieg verkauft und als „Judasgeld“ 50 Mercedes erhalten hätten. Torwart Grosics und Verteidiger Buzanszky wiesen solche Vorwürfe empört zurück. Gyula Grosics hält eine „Rache“ der Engländer für möglich. Zumindest hätten die Entscheidungen des englischen Schiedsrichters Ling das Spiel beeinflusst: „Nach unserer Meinung war das 3:3 durch Ferenc Puskas regulär, und vielleicht stand Max Morlock beim 1:2 im Abseits.“
Doch auch ohne Schiedsrichter-Schelte lassen sich Gründe für die ungarische Niederlage finden. Der verletzte Puskas konnte nicht so laufen, wie er wollte, die Spieler waren nach der 2:0-Führung sehr überheblich, und zudem funktionierte die Abstimmung in der zweiten Halbzeit nicht so wie gewohnt. Man sei sich, so Jenö Buzanszky, nach der Pause nicht mehr „einig“ gewesen. Der Sand im Getriebe der ungarischen Kombinationsmaschinerie öffnete die Lücken für Herbergers Schützlinge. Der „Weise von der Bergstraße“ hatte freilich schon vorab erkannt, dass sich auf der Seite von Bozsik Löcher auftaten, wenn dieser zu stürmisch nach vorne drängte. Alle drei deutschen Tore wurden über die linke ungarische Abwehrseite vorbereitet. Darüber hinaus hatten die Deutschen eine Menge Glück. Johann Schlüpers Rekonstruktion des Endspiel-Films macht erst so richtig deutlich, wie überlegen die Ungarn trotz allem waren.
Kurz: Man muss einfach zugeben, dass der deutsche Sieg weder zwingend war noch zwingend als „verdient“ bezeichnet werden muss. Aber hätten sich die Deutschen deswegen nicht freuen sollen? Und hatten sie umgekehrt zwölf Jahre später nicht alles Recht der Welt, sich zu beschweren, als sie das Endspiel diesmal völlig zu Unrecht verloren?
„Achtung, Achtung! Hei – nicht im Tor, kein Tor – oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter? Tor!“ So kommentierte ARD-Reporter Rudi Michel die Situation in der 11. Minute der Verlängerung des WM-Finales 1966 zwischen England und Deutschland. Geoffrey Hurst hatte eine Flanke von Alan Ball aufgenommen und das Leder aus halbrechter Position auf Tilkowskis Kasten gewuchtet. Der Ball war an die Unterkante der Latte geknallt, von dort zurück auf den Rasen gesprungen, und der herbeigeeilte Weber hatte ihn über die Querlatte ins Toraus geköpft. Drin oder nicht drin? Das war die Frage, die damals alle Gemüter erhitzte und bis heute Diskussionen auslöst.
Natürlich sahen alle Engländer den Ball „drin“. Der englische Linksaußen Hunt riss sofort jubelnd die Arme hoch. Das war das 3:2 dachten alle Zuschauer, und das Wembley-Stadion erbebte nach einem Moment kollektiver Unsicherheit im Aufschrei der Freude. Weniger selbstverständlich war, dass der deutsche Bundespräsident Heinrich Lübke ein Tor sah. Weil er offensichtlich dem Gastgeber England gegenüber ein Verlierer mit Stil sei wollte, behauptete er sogar etwas, was keinesfalls geschehen sein konnte. Beim Empfang der am Ende mit 2:4 unterlegenen deutschen Nationalmannschaft in der Villa Hammerschmidt fand er gegenüber Helmut Haller folgende tröstende Worte: „Herr Haller, ärgern Sie sich nicht über das dritte Tor. Ich habe im Fernsehen genau gesehen, wie der Ball im Netz zappelte.“
Für den entscheidenden Mann auf dem Platz, den Schiedsrichter, war es kein Tor. Jedenfalls zunächst. In seiner ersten spontanen Reaktion gab der Schweizer Gottfried Dienst Eckball. Erst die tobende Menge im Stadion und die wild protestierenden Engländer veranlassten ihn, sich mit seinem Linienrichter zu beratschlagen. Eigentlich wäre es überflüssig gewesen. Denn der Linienrichter, ein Russe namens Tofik Bachramow, war nämlich stehen geblieben und nicht, wie es zum Zeichen eines Tores üblich ist, in Richtung Mittellinie gelaufen. Von daher war alles klar: Eckball von rechts für England. Dienst befragte Bachramow dennoch. Was geredet wurde, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Dienst äußerte, dass der Mann an der Seitenlinie auf die Frage, ob der Ball hinter der Linie gewesen sei, geantwortet habe: „Yes, behind the line.“ Bachramow selbst hat später in einem Interview erklärt, dass er nicht gesehen habe, ob der Ball hinter der Linie war. Doch habe er beobachtet, „wie der Engländer Hunt nach dem Schuss von Hurst seine Arme hochriss. Ich sah auch, dass der deutsche Torwart einen untröstlichen Eindruck machte. Deshalb muss es Tor gewesen sein.“ Hurst selbst, der zunächst jahrelang geschwiegen hatten, schrieb in seinem Buch „1966 and All That“: „Die Deutschen hatten das Gefühl, dass ihnen der angesehenste Preis im Weltfußball gestohlen worden war. Vielleicht war das geschehen“, räumte er ein. „Sie glaubten aufrichtig, dass der Ball die Linie nicht überschritten hatte, und es könnte sein, dass sie Recht haben. Nachdem ich jahrzehntelang alle Argumente gehört und die Wiederholungen Hunderte von Malen gesehen hatte, muss ich einräumen, dass es so aussieht, als habe der Ball nicht die Linie überschritten.“ Allerdings schränkte er ein: „Sofern nicht jemand das Gegenteil beweist, stimme ich mit den Herren Dienst und Bachramow jedoch überein.“
Jahre, Jahrzehnte lang wurde untersucht, ob der Ball nun drin war oder nicht. 1995 kam eine wissenschaftliche Untersuchung zweier Maschinenbau-Ingenieure von der Universität Oxford zu dem Ergebnis: nicht drin. Doch selbst nach diesem Ergebnis wird noch weiter gestritten. Dabei könnte man es sich doch so einfach machen. Wer die Fernsehaufnahmen vom Endspiel aufmerksam betrachtet, kann mühelos erkennen: In dem Moment, in dem der von der Latte zurückspringende Ball den Boden berührt, staubt es. Stauben aber kann es nur, wenn der Ball die mit Kreide markierte Torlinie berührt hat. Somit ist klar, dass er nicht hinter der Torlinie gelandet sein kann, jedenfalls nicht so, wie es die Regeln verlangen, nämlich mit vollem Umfang. Also bleibt nur der einzig mögliche Schluss: nicht drin.
Manche Kommentatoren wie der „Kicker“-Redakteur Robert Becker vermuteten hinter Bachramows Verhalten einen russischen Racheakt, denn immerhin hatte Deutschland die UdSSR im Halbfinale ausgeschaltet. Andere monierten, dass Dienst – unabhängig davon, ob der Ball nun drin war oder nicht – sich sowieso zwei Fehler habe zuschulden kommen lassen: Erstens hätte er seine erste Entscheidung