Christoph Bausenwein

Geheimnis Fussball


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Kombinationsfußball aufziehen und den Ball über mehrere Stationen laufen lassen.

      Tatsächlich haben mit Lothar Matthäus und Stefan Effenberg die letzten Spezialisten des langen Balles abgedankt. Und tatsächlich fand bereits 1993 der meiste Teil des Champions-League-Endspiels zwischen Olympique Marseille und dem AC Mailand (1:0) nur auf einem etwa 40 Meter tiefen Streifen rund um die Mittellinie statt: Zwei perfekt organisierte Abwehrreihen hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes den Spielraum „geklaut“. Lange Pässe waren da wirkungslos. Dennoch kam es immer noch, wenn auch seltener, zum großräumigem Spiel; so trugen Stefan Effenbergs lange Bälle nicht unwesentlich zum Champions-League-Sieg Bayern Münchens im Jahr 2001 bei. In der Saison 2005/06 ließ sich der Niederländer Raffael van der Vaart vom HSV oft weit zurückfallen, um einen klassischen Pass „aus der Tiefe des Raums“ zu spielen. Der lange Pass ist also noch nicht ausgestorben; doch ist er keine Frage des Prinzips mehr, sondern der sich bietenden Gelegenheit.

      Gelegentliche Flugbälle machen aber noch keinen Fußballsommer. Der gepflegte Spielmacher-Pass auf die Flügel mit anschließendem Dribbling und Flanke in den Strafraum ist heute weitgehend Fußball-Nostalgie. Im modernen Fußball setzen die Trainer nicht mehr auf klassische Spielmacher, sondern auf intelligente und ballsichere Leute, die das Spiel aus der Defensive mit klugen Zügen eröffnen können. Frank Rijkaard hat es beim AC Mailand, dem Europapokalsieger von 1989 und 1990, vorgemacht; Edgar Davids spielte bei Juventus Turin ganz ähnlich und wurde 2004 durch Emerson ersetzt, der von Fachleuten wie Urs Siegenthaler, dem Spielebeobachter des DFB, als wichtigster Spieler des aktuellen brasilianischen Teams eingeschätzt wird.

      Im modernen Fußball müssen alle mitarbeiten und in der Lage sein, verschiedene Funktionen auf dem Spielfeld auszufüllen. Es gibt keine festen Arbeitsplätze mehr wie einst, als ein Verteidiger nur einen Streifen von 30 x 10 Metern beackerte. Heute geht alles viel schneller, kürzer und meist durch die Mitte, am perfektesten von den Brasilianern vorgeführt. Grundlage ihres „Flipperspiels“ ist eine hohe Laufbereitschaft, eine gute Abstimmung der Laufwege in entsprechenden Spielzonen und eine perfekte Technik, die es erlaubt, Dribblings zu gewinnen und den Ball selbst unter Bedrängnis sicher zu verarbeiten.

      Doch auch wenn die Spielgestaltung auf mehrere Schultern verteilt wird, hat das schöne Spiel im und mit dem Raum noch nicht ausgedient. Alle Spieler müssen sich heute disziplinierter denn je mit hohem Tempo unermüdlich auf dem Platz bewegen. In entscheidenden Momenten aber sind immer noch die Ideen und Kunstfertigkeiten von Spielgestaltern gefordert. Und natürlich ebenso die Mitspieler, die ihre Entwürfe verstehen, die entsprechenden Wege gehen und so die sich öffnenden Möglichkeiten auch nutzen können. Und beides, die Vorlage und das Eingehen auf eine Spielidee, erfordert wie zu Zeiten Netzers einen hohen Grad an Konzentration und räumlicher Intelligenz.

      In keinem anderen Bereich des Lebens liefen „auf so kleinem Raum mit so einfachen Mitteln so elementare und zugleich hochdifferenzierte Prozesse“ ab wie beim Fußball, bemerkte der Kunsthistoriker Horst Bredekamp. Das menschliche Hirn sei durch das geforderte intellektuelle Spiel mit dem Raum ganz besonders beansprucht. Mit Sicherheit gehöre es „zu den glänzendsten Fähigkeiten, zu denen menschliches Raumdenken fähig ist“, um in Sekundenbruchteilen „die Bewegungen des Gegenspielers mit denen der Mitspieler zu vergleichen und den Ball auf einen Punkt zu spielen, auf dem sich einer der Mitspieler in wenigen Sekunden freigelaufen haben wird“.

      Genau das – die Genialität eines öffnenden Passes im Moment des Abspiels bewundernd zu erkennen – macht gerade für den Zuschauer den ästhetischen Reiz des Spiels aus. Solche „Kunstwerke des Augenblicks“ erschließen sich im vollen Maße erst für den Besucher im Stadion. Denn nur er kann – im Gegensatz zum Fernsehkonsumenten – die Gesamtsituation auf dem Spielfeld als Ganzes überblicken und beurteilen. Für ihn ist es zudem ein besonderer intellektueller Reiz, die nichtrealisierten Entwicklungsalternativen einer Spielsituation zu erfassen; und so wird es unter Fußball-Feinschmeckern zu einem beliebten Spiel, auch die situativ vielleicht bestmögliche Situation noch zu bekritteln. Weil im Fußball „alles“ möglich ist, kann eben nie ausgeschlossen werden, dass man „alles noch viel besser“ hätte machen können.

      TEMPO

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      In der Analyse des Raumes hat sich bereits angedeutet, dass auch die Zeit beim Fußball eine große Rolle spielt. Das beste Abspiel nützt nichts, wenn es nicht zum richtigen Zeitpunkt stattfindet. Kommt es zu früh, ist der Raum noch nicht von einem Mitspieler besetzt, kommt es zu spät, ist er unter Umständen schon ins Abseits gelaufen. Die Kunst, den Ball im richtigen Augenblick an die richtige Stelle zu befördern, nennt man Timing. Eine Flanke oder ein Pass sind nur dann „gut getimet“ und gelungen, wenn sie so geschlagen werden, dass sie der mitgelaufene Spieler auch noch erreichen kann. Besonders schwierig ist das Timing beim Doppelpass, denn hier muss der Ball nicht nur beim Abspiel, sondern auch beim unmittelbaren Zurückprallen in den Lauf des Mitspielers punktgenau serviert werden.

      Für das exakte Platzieren eines Balles zum richtigen Zeitpunkt bleibt beim Fußball nicht viel Zeit. Im Gegensatz zu dem, der eine Fußballstrategie entwirft, kann der Spieler auf dem Platz nicht lange über den richtigen Spielzug nachdenken. Spieler müssen in der Lage sein, schnell Entscheidungen zu treffen. Sie müssen in jedem Augenblick intuitiv das Richtige tun. Nicht umsonst kritisieren viele Trainer Spieler, die „zu viel“ denken. Solche „Vieldenker“ neigen dazu, den richtigen Zeitpunkt für den aussichtsreichen Abschluss einer Aktion zu verpassen. Erfolgreiche Spieler handeln schnell: Von „Bimbo“ Binder, in den 1930er Jahren Torschützenkönig in Diensten von Rapid Wien, hieß es, dass der Torwart oft noch auf seinen Schuss gewartet habe, während der Ball schon längst im Tor lag. Ganz anders dagegen Cyrille Makanaky, Nationalspieler Kameruns, der zu einer ausgelassenen Tormöglichkeit im Spiel gegen Argentinien (WM 1990) bemerkte: „Ich habe zu lange überlegt, ob ich schießen oder abspielen soll. Und als ich dann schoss, hatte ich mich eigentlich entschieden abzugeben.“ Wie dieses Beispiel zeigt, schlummert im Fußball ein dezisionistisches Element, was heißt: Es ist in jedem Falle besser, sich überhaupt zu entscheiden und schnell irgendetwas zu tun, als sich gar nicht zu entscheiden und eine Gelegenheit tatenlos vorüberziehen zu lassen.

      Wer blitzartig handeln kann, hat im Fußball große Vorteile. Kreative Spieler können ein Spiel so „lesen“, dass zwischen dem Erkennen der entscheidenden Situation und dem Spielen des für den Gegner „tödlichen“ Passes nicht mehr als ein Wimpernschlag liegt. Weil sie besser und schneller Möglichkeiten erfassen können als andere, bleiben solchen Spielern auch in scheinbar aussichtslosen Situationen noch Handlungsspielräume offen. Dass gerade die zentralen Schaltpositionen einer Mannschaft auffallend häufig von älteren Spielern besetzt sind, zeigt, wie wichtig für das Erkennen des richtigen Augenblicks die Erfahrung vieler Spiele ist. Es macht darüber hinaus deutlich, dass auch langsame Spieler ein Spiel schnell machen können, sofern sie mit den entsprechenden technischen Fertigkeiten ausgestattet sind, um den Ball in einem Atemzug stoppen, kontrollieren und punktgenau weiterleiten zu können. Denn Schnelligkeit heißt im Fußball weniger, mit dem Ball zu rennen, es bedeutet vielmehr schnelles Handeln im Umschalten von Verteidigung auf Angriff, vom langsamen Kurzpassspiel in die Breite auf einen schnellen Pass in die Tiefe. Beim Fußball geht es weniger um physische Schnelligkeit denn um „Spielhandlungsschnelligkeit“.

      Wichtig ist vor allem ein sofortiges Umschalten bei Balleroberung, um den Augenblick zu nutzen, in dem sich der Gegner noch nicht sortiert hat. Wer den Ball bereits im vordersten Drittel erobert, erhöht seine Torchancen deutlich. Die meisten Tore fallen heute durch das schnelle Ausnutzen von Ballverlusten, vier von fünf Toren gehen nicht mehr als fünf Ballkontakte voran. Früher dauerte es relativ lange, da der Ball erst von einem der technisch meist limitierten Verteidiger zum Spielmacher weitergegeben werden musste, der ihn dann verteilte. Heute erledigt der Mann im zentralen defensiven Mittelfeld die Aufgabe in einem Zug. Beim Angriff des Gegners schließt er die Lücken; kommt er in Ballbesitz, leitet er sofort den eigenen Angriff ein. Ein Geheimnis der nach wie vor erfolgreichen Brasilianer liegt genau in diesem prompten Umschalten bei der Balleroberung; ein eher unauffälliger, aber dennoch enorm wichtiger Spieler wie Emerson versteht es, die für einen Augenblick in der Formation des Gegners entstandenen