sind die Räume permanent in Bewegung, indem Lücken „gerissen“ oder „dicht“ gemacht werden, wird das bespielbare Feld permanent neu aufgeteilt oder neu zusammengefügt. Nicht immer ist dabei leicht zu erkennen, welche Mannschaft gerade im Vorteil ist. Denn der Raumgewinn allein zählt beim Fußball nicht. Entscheidend ist das geschickte Nutzen des Raumes, das Spiel im Raum und mit dem Raum. Man kann die Räume eng oder weit machen, man kann in die Tiefe oder in die Breite spielen, man kann das Spiel in andere Räume verlagern oder den Gegner auf kleinstem Raum ausspielen. Dieser Sachverhalt ist punktgenau getroffen, wenn man den Fußball als „das Spiel der wechselnden räumlichen Distanzen“ beschreibt.
Das Spiel mit dem Raum beginnt bereits in der Abwehr. Manche Teams, etwa die Italiener in den 1960er Jahren, verließen sich auf eine massive, tief gestaffelte Abwehr, die Griechen standen bei der EM 2004 ebenfalls weit hinten und erwarteten dort ihre Gegner. Das kann erfolgreich sein, modernes Abwehrspiel jedoch sieht anders aus. Es geht in erster Linie darum, das Spielfeld zu „verkleinern“. Johan Cruyff und sein Trainer Rinus Michels haben diese Strategie ab Ende der 1960er Jahre bei Ajax Amsterdam entwickelt. Eine Viererabwehrkette, vorgeschoben bis zur Mittellinie und dabei eine Abseitsfalle aufbauend, lässt für den Gegner nur noch halb so viel Platz. Dann geht es darum, in der Nähe des Balles Überzahl zu erreichen, den ballführenden Spieler einzukreisen, dadurch Abspiele zu erschweren und, wenn man den Gegner zum Fehler verleitet hat, selbst in Ballbesitz zu kommen. Ernst Happel, der das „Engermachen“ bereits in der gegnerischen Hälfte mit dem Hamburger SV der 1980er Jahre vorbildlich praktizierte, benutzte dafür den Namen „Pressing“: „Zerschlagen, was noch gar nicht entstand, und sich dann selber entwickeln.“
Was passiert, wenn man in der Abwehr nicht gut steht, mussten die Deutschen bei der Niederlage gegen Bulgarien im Viertelfinale der WM 1994 erleben. Weil sich der deutsche Libero Matthäus nach der 1:0-Führung hinter die Abwehr zurückzog, bekamen die Bulgaren Raum für gefährlich Aktionen in Tornähe und konnten das Spiel letztlich noch für sich entscheiden. Hätte er vor der Abwehr gespielt, hätte er im entscheidenden Moment schneller eingreifen können. Mangelnde Flexibilität und schlechte Raumaufteilung werden im modernen Spiel vom Gegner meist sofort bestraft. Früher gab es in der Abwehr nur eine zusätzliche Hilfe (den Stopper oder Libero), heute müssen alle beim Absichern eines Zweikampfes helfen. Auch die Offensivspieler müssen in der Defensive mitmachen, denn nur dann kann der ballführende Spieler in Überzahl gestellt werden. Heute ist die kollektive Abstimmung, das Verschieben und das Pressing in der Defensive, so ausgeprägt, dass es in keiner Phase mehr unbeteiligte Spieler geben darf. Jeder ist am Übernehmen, Übergeben, Verschieben beteiligt, selbst der Mittelstürmer muss bei Ballverlust sofort auf Defensive umschalten. Umgekehrt muss in der Offensive durch permanente Beteiligung des defensiven Personals Überzahl hergestellt werden.
In der Qualifikation zur WM 2006 jagten vor allem die von José Pekerman trainierten Argentinier vorbildlich im Kollektiv nach dem Ball. Wird der Ball vom Gegner nach außen oder hinten gepasst, ist dies das Signal für die argentinischen Spieler, sich sofort in Richtung Ball zu verschieben, um dem Gegner den Raum abzuschnüren, dadurch unter Druck zu setzen und zu Fehlern zu verleiten. Argentinische Teams machen das Spielfeld nicht nur in der Länge, sondern auch in der Breite enger und stellen ihre Gegner unentwegt in „verdichteten“ Räumen. Andere, Mexiko etwa, schaffen es mit guter Raumaufteilung und enormer Laufbereitschaft, den ballführenden Spieler immer mit zwei Mann zu attackieren. Beim Confed-Cup 2005 kauften sie mit dieser Methode des permanenten Doppelns sogar den übermächtig scheinenden Brasilianern den Schneid ab.
Man kann also auch ohne Ball mit dem Raum spielen, eine Raumordnung vorgeben und dadurch dem Gegner in gewisser Weise das „eigene“ Spielfeld aufzwingen. Doch genau so, wie der Verteidiger dem Stürmer in der Bewegung immer hinterher ist, so ist auch die gesamte Mannschaft, die nicht im Ballbesitz ist, zu einem permanenten Hinterrennen gezwungen. Grundsätzlich hat daher die Mannschaft, die sich im Ballbesitz befindet, mehr Optionen. Und so versuchen auch alle Teams, die gewinnen wollen, das Spiel durch Ballbesitz zu beherrschen. Bis auf die Italiener, die als einzige die geradezu metaphysische Kraft besitzen, ein Spiel auch ohne Ballbesitz zu kontrollieren, streben alle siegeswilligen Mannschaften zunächst einmal nach der Ballkontrolle. Wer den Ball hat, kann entscheiden, was passiert, und der Gegner muss darauf reagieren.
Eine hervorragende Angriffsformation versteht es, sich durch pausenloses In-Bewegung-Sein und Rochieren so im Raum zu verteilen, dass es immer mindestens einen Spieler gibt, der besser zum Ball steht als der Gegner. Gute Mannschaften brillieren mit langen Ballstafetten, die den Gegner zum Statisten degradieren. Während die einen mit schnellen Kurzpässen das Spiel scheinbar mühelos kontrollieren, rennen die anderen hilflos hin und her. Wichtiger als jedes Spielsystem ist daher die Berücksichtigung der grundlegenden Fußballweisheit Sepp Herbergers, der zufolge es im Fußball allein darauf ankomme, „dass man dort, wo die Entscheidung fällt, jeweils zahlenmäßig stärker ist als der Gegner“. Entscheidend für den Torerfolg ist dann der Blick für die Lücke, der Pass in den „freien“ Raum, der für die eigene Mannschaft einen Spielzug ermöglicht, auf den der Gegner nicht mehr rechtzeitig reagieren kann.
Ohne Ball lautet das Credo, die Räume eng zu machen; bei Ballbesitz besteht die Hauptaufgabe darin, sie weit zu machen. Durch das Auseinanderziehen des Spiels – schnelle Flügelwechsel, öffnende Diagonalpässe – sollen möglichst viele Spieler des Gegners aus dem Spiel genommen werden. Für die angreifende Mannschaft stellt sich demnach das Spielfeld im Prinzip als ein geometrisierter Raum mit verschlossenen und offenen Flächen dar; durch deren geschicktes Verschieben will sie ein Übergewicht der eigenen Kräfte in Richtung gegnerisches Tor bzw. Platz für das eigene Spiel schaffen. Zentrale Aufgabe ist, die zunächst noch unsichtbaren Linien zu erkennen, auf denen das Spiel geöffnet werden kann. Genial ist, wer diese Linien erkennt und an ihnen entlang den Ball spielt. Aber natürlich müssen auch die anderen mitmachen und die entsprechenden Wege gehen.
Fußballdenker sehen die Linien besser. Aber Spieler, die den Raum mit ihren Pässen neu definieren können, benötigen auch ein hervorragendes Ballgefühl. Denn nur derjenige, der den Ball „blind“ beherrscht, hat den Blick frei für das Beobachten des Spielverlaufs. Im Gegensatz zum zaubernden Dribbler, der über seiner Ballverliebtheit oft den besser postierten Mitspieler vergisst, zeichnet den Spielgestalter neben guter Technik vor allem der ständige Überblick über die jeweils aktuelle Spielsituation sowie die Fähigkeit aus, mögliche Entwicklungen zu antizipieren. In der Regel weiß ein Spielgestalter schon vor dem Ballbesitz, wohin er den Ball abgeben kann, und in dem Augenblick, in dem er ihn spielt, hat er schon längst einen „Spielfilm“ parat für das, was dann passieren wird. Bernd Schuster beschrieb seine Qualitäten mit den Worten: „Wenn der Ball auf mich zurollt, weiß ich mindestens zwei Stellen, wo ich ihn hinschießen kann.“ Könner wie Schuster haben dann auch die Fähigkeit, den Ball ihren Mitspielern punktgenau „auf die Zunge zu legen“.
Weil sie diejenigen sind, die in oft genialer Weise mit dem Raum spielen und dadurch für die Vollstrecker die Wege zum Tor erst öffnen, gelten vielen die Denker und Lenker im Mittelfeld als die eigentlichen Helden des Spiels. Diese Regisseure oder Spielmacher eröffnen dem Spielverlauf ungeahnte Möglichkeiten, indem sie, wie etwa der geniale Netzer, „aus der Tiefe des Raumes“ einen Pass über die halbe Spielfläche schlagen und damit die Abwehrreihen zerteilen „wie den Pfirsich mit dem Obstmesser“. Aus solchen Pässen, die wie aus dem Nichts plötzlich ganz andere Situationen entstehen lassen, wird der Raum für Überraschungen gezimmert, der den Fußball so interessant macht. Wunderbar anzusehen ist auch das wieselflinke Kurzpass-Spiel der niederländischen Ballstrategen, deren Spiel – vor allem außerhalb Deutschlands – als „brillant Orange“ (David Winner) zum Synonym für schönen Fußball geworden ist. In beiden Fällen wird der Fußball zum Raum-Spiel und damit für den Zuschauer zum ästhetischen Genuss. Die von virtuosen Ballarchitekten auf den Rasen gezauberten Kunstwerke sind zwar nur flüchtige Erscheinungen; doch auch wenn nicht in Stein, so sind sie immerhin in die Erinnerung derer eingemeißelt, die sich für die Schönheit der Fußball-Geometrie begeistern können.
Die klassische Figur des Spielmachers und Regisseurs gilt mittlerweile als überholt. Der lange, öffnende Flugball habe abgedankt, so liest man immer wieder, weil die Räume zu eng geworden seien, weil die verteidigenden Mannschaften zu schnell nachschieben und das Spiel auf schmale Bereiche verdichten