Biermann und Ulrich Fuchs: „Ihm ins Mittelfeld folgen und hinter sich Löcher lassen oder Hidegkuti aufspielen lassen?“ Johnston, der seine Deckungsaufgabe nicht erfüllen konnte, war in dem Spiel mehr oder weniger „verschenkt“. Die Engländer waren schon allein durch diese ungewohnte Situation durcheinander. Dazu kam, dass die Ungarn auf die jeweilige Entwicklung der Spielsituation flexibel reagierten. Sie klebten nicht auf ihren Positionen fest, sondern wechselten und rochierten. Wenn Rechtsaußen Budai nach innen zog, gab Rechtsverteidiger Buzanszky den Rechtsaußen. Die beiden spielten also ganz modern, „überlappend“, wie man heute sagt. Umgekehrt ließ sich nicht nur der „hängende“ Mittelstürmer Hidegkuti zurückfallen, sondern auch die Außenstürmer Czibor und Budai halfen immer wieder hinten aus. „Wir haben ständig die Positionen getauscht; wo wir beim Anstoß standen, war völlig irrelevant“, fasste Nandor Hidegkuti zusammen.
Der Erfolg der Ungarn wurde wenig später im Rückspiel gegen die Engländer noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Sie gewannen mit 7:1, und diesmal machten sie statt Johnston einen Mann namens Owen besonders unglücklich. „Ich konnte diese Burschen niemals richtig tackeln“, stellte er resigniert fest. „Wann immer ich sie attackierte, spielten sie den Ball vorher einem besser postierten Nebenmann zu.“
Die Engländer hatten immer noch kein Mittel gefunden gegen diese mit schnellen Positionswechseln ergänzte Variante des Kurzpassspiels. Dabei war die Sache im Prinzip gar nicht so schwer zu verstehen. „Wenn wir ein Geheimnis hatten“, erläuterte Rechtsverteidiger Buzanszky, „dann das, dass wir schon damals im Schnitt um ein- bis zweitausend Meter mehr gelaufen sind bei den Fußballspielen als unsere Rivalen, und wir konnten füreinander kämpfen.“ Und dann kam natürlich auch noch das herausragende balltechnische Vermögen der einzelnen Spieler hinzu.
Das System – oder besser: die Methode – der Ungarn gelangte vermutlich über den ungarischen Trainer Bela Guttmann nach Brasilien, ins Land des künftigen Serien-Weltmeisters. Jedenfalls war der ab 1956 in Sao Paulo tätig; und irgendwoher mussten die Brasilianer ja ihr 1958 praktiziertes 4-2-4-System haben, das die Experten als Weiterentwicklung der ungarischen Variante interpretieren. Aber was heißt 4-2-4-„System“? Entscheidend für den Erfolg war nicht die nominelle Verteilung, sondern die Bewegung im Raum. Sie deckten tief gestaffelt, immer ballorientiert. Und sie verschoben sich je nach Spielsituation wie eine Ziehharmonika: Beim Verteidigen zogen sie sich zusammen, beim Angriff verteilten sie sich blitzartig im Raum. Und nicht zuletzt: Sie waren alle perfekt am Ball.
Die Brasilianer waren auch gut in der Defensive, aber sie verließen sich nicht allein auf die Abwehrarbeit. Andere Teams trafen da eindeutigere Entscheidungen. Eine gezielte Stärkung der Defensive hatten in den 1930er Jahren der Italiener Vittorio Pozzo mit seiner „Metodo“ und der Schweizer Karl Rappan mit seinem „Riegel“ entwickelt. Beide Teams waren mit ihrer Philosophie, zusätzliche Sicherungen in die Abwehr einzubauen, erfolgreich. Italien wurde 1934 und 1938 Weltmeister, die Schweizer kegelten bei der WM 1938 das „großdeutsche“ Team aus dem Wettbewerb. Vor allem die Italiener blieben auch nach dem Zweiten Weltkrieg der Defensive treu. Es waren zunächst die kleinen Klubs, die das Verteidigen perfektionierten, um gegen die großen eine Chance zu haben. Bei Salernitana zog Gipo Viani den Mittelstürmer in die Abwehr zurück. Der Journalist Gianni Brera taufte die neue Position auf den Namen „Libero“. In Triest und beim AC Mailand erprobte Nereo Rocco den „Catenaccio“ in Anlehnung an den Schweizer Riegel. Das Abwehrsystem wurde schließlich von Helenio Herrera bei Inter Mailand adoptiert und dann in den 1960er Jahren berühmt-berüchtigt. Herrera wollte vor allem eines nicht: geschlagen werden. Fünf Defensivspieler – vier Verteidiger und ein Mittelläufer dahinter – sorgten dafür, dass das fast nie geschah. Weitere Spieler mussten sich ebenfalls in die Defensive mit einschalten, so agierte etwa der Linksaußen bei Inter sehr weit hinten. Bei Ballbesitz ging es dann darum, überfallartig nach vorne zu stoßen. Das heißt: Die Außenverteidiger standen zwar hinten, mussten aber auch mit angreifen. Auf diese Weise wurde der linke Verteidiger Giacinto Facchetti zum Prototyp des stürmenden Verteidigers. Führten die Italiener mit 1:0, verschwendeten sie keine Energie mehr und stellten konstruktive Bemühungen oft vollständig ein.
In gewisser Weise war der „Catenaccio“ der Anfang vom Ende der Außenstürmer. In früheren Zeiten blieben die Außenstürmer vom klassischen Typus eines Stanley Matthews einfach stehen, wenn ihr Team gerade nicht in Ballbesitz war. Waren sie bei Ballbesitz gut abgeschirmt und daher nicht anspielbar, konnten sie am Flügel regelrecht „verhungern“. Umgekehrt blieben die klassischen Verteidiger beim Angriff zurück und beobachteten das Spiel aus sicherer Distanz. Im Prinzip hatte Herrera also vor allem „Ausfallzeiten“ reduziert, indem er die Aufgaben der Außenstürmer von den Außenverteidigern mit übernehmen ließ. Englands Trainer Alf Ramsey zog 1966 die Konsequenz, dass er gleich ganz auf traditionelle Flügelspieler verzichtete. Ein Novum war darüber hinaus der „Sweeper“ (Feger) Nobby Stiles, der nicht hinter, sondern vor der Abwehr agierte. Bei Ballbesitz eröffnete er das Spiel aus dem hinteren Mittelfeld heraus.
Das englische System bei der WM 1966 war in der Theorie ein 4-3-3: hinten eine Vierer-Abwehrkette auf einer Linie, davor ein Dreier-Mittelfeld und vorne drei aus dem Zentrum heraus agierende Stoßstürmer. In Deutschland setzte sich wenig später ebenfalls ein 4-3-3 als Prinzip durch, das allerdings etwas anders aufgebaut war. Die Endspiel-Aufstellung 1974 hatte zwei Außenverteidiger (Vogts, Breitner) sowie Libero und Vorstopper in der Abwehr (Beckenbauer, Schwarzenbeck); im Mittelfeld trieben Hoeneß, Bonhof und Overath, unterstützt von dem immer wieder nach vorne gehenden Beckenbauer, das Spiel an; vorne stürmten Grabowski (rechts), Müller und Hölzenbein (links). Vom klassischen W-M-System unterschied sich diese Aufstellung vor allem durch den Verzicht auf die Halbstürmer: Aus dem einen war der Vorstopper, aus dem anderen ein Mittelfeld-Spieler geworden. Der Aufbau des Spiels war relativ statisch. Beckenbauer schaltete sich zwar – nach dem Vorbild des stürmenden Außenverteidigers Facchetti – als offensiver Libero ins Angriffsspiel mit ein, andere Spieler aber klebten an ihren Positionen fest und fielen als reine Verteidiger für das Aufbauspiel praktisch aus.
Auch die Niederländer, der Gegner im Endspiel, spielten nominell im 4-3-3. Aber was für ein Unterschied in der Interpretation! Die „Modernität“ fing ganz hinten an, bei Torhüter Jongbloed, der als erster Offensiv-Torhüter den Ball auch öfter mal mit dem Fuß spielte. Libero Haan kam nicht nur, wie Beckenbauer, sporadisch nach vorne, sondern spielte permanent vor der Abwehr. Die Positionen der Außenstürmer waren zwar besetzt (Rep, Rensenbrink), konnten aber auch von den Außenverteidigern (Suurbier, Krol) übernommen werden. Dann zogen die nominellen Stürmer nach innen. Das konnten sie, weil dort meist Platz war. Der Chef der Niederländer, Johan Cruyff, war nominell nämlich nicht, wie meist angenommen wird, ein Mittelfeldspieler, sondern Mittelstürmer. Er ließ sich aber meist zurückfallen, so dass Platz für andere geschaffen wurde. Wie Cruyff waren auch alle anderen Spieler, dabei immer aufeinander abgestimmt, ständig in Bewegung. In jedem Moment spielten alle mit. Die „Oranjes“ waren ein flexibles, in hoher Geschwindigkeit agierendes Kollektiv, das immer als „Gesamtkörper“ im Spiel blieb. In der Defensive wie in der Offensive verschoben sich alle Spieler ballorientiert – so wie das heute sämtliche Spitzenteams tun.
Ganz anders als bei den Niederländern lief zur selben Zeit das 4-3-3 in der Jugendmannschaft der Sportvereinigung Nürnberg Ost ab. Während die „Oranjes“ den Fußball revolutionierten, spielten wir eine tumbe Manndeckung. Es war ja auch viel einfacher zu verstehen. Manchmal, wenn der Gegner einen sehr starken Spielmacher hatte, hieß es: „Den nimmst du jetzt in Manndeckung.“ Das war eine klare Anweisung. Die Idee war, den besten gegnerischen Mann aus dem Spiel zu nehmen. Man erkannte auch, dass es gar nicht so wichtig war, wenn dann das eigene Läuferspiel nicht mehr stattfand. Falls es gelang, den Gegenspieler zu neutralisieren, waren eben zwei Mann aus dem Spiel genommen; der Rest spielte neun gegen neun. Aber „spielten“ die eigentlich überhaupt? Auch die waren ja in das Prinzip der Manndeckung eingebunden. Der Vorstopper machte es mit dem Mittelstürmer, die Außenverteidiger machten es mit den Außenstürmern, und beim Gegner war es umgekehrt. Wenn der dann auch noch unseren eigenen Spielmacher in Manndeckung nehmen ließ, blieben nur noch zwei „freie“ Spieler übrig: der Libero und der zweite Läufer. Da der Libero aber, wie bereits beschrieben, kein Libero war, lag die ganze Last des Spielaufbaus im Grunde genommen auf den Schultern eines einzigen Spielers. Und bis der dann seinen direkten