motorische Begabung und sehr viel Spielfreude“, zugleich aber fehle ihnen „oft das Spielverständnis“. Ähnlich lauteten einst die Urteile über die Brasilianer. Als sie dann seit 1958 WM-Titel in Serie holten, meinte ein Kommentator: „Von dem Tage an, an dem die Brasilianer das Mannschaftsspiel lernten, waren sie nicht mehr aufzuhalten.“
Fußball ist ein Mannschaftssport, und das heißt, dass je elf Spieler in gleichsam organischem Zusammenspiel eine schlagkräftige Einheit bilden müssen. Diesem „Mannschaftskörper“ hat Joachim Seyppel metaphorischen Ausdruck verliehen, als er einem Protagonisten seines Romans „Wer kennt noch Heiner Stuhlfauth“ die Aufstellung eines Fußballteams anhand der männlichen Anatomie erläutern ließ: „Das hier ist mein Rechtsaußen, sozusagen mein rechtes Bein, mein linkes Bein ist der Linksaußen, meine beiden Gehirnhälften stehen halbrechts und halblinks, meine beiden Lungen spielen Außenläufer, die beiden Verteidiger als Nieren scheiden gewissermaßen das für uns Gefährliche aus, der Torwächter ist unser Magen und Darm und muss leichte und schwere Brocken verdauen, das Herz fungiert als Mittelläufer, und vorn steht mein Mittelstürmer, der muss die Tore schießen, unser fruchtbarster Stoßkeil, sozusagen das Geschlecht … und die Mannschaft als Ganze ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Haut, die alles zusammenhält …“
Wie jedes einzelne menschliche Organ nur im „Zusammenspiel“ mit allen anderen seine Funktion erhält, so macht auch jeder einzelne Fußballspieler nur innerhalb des Gesamtgefüges einer Mannschaft „Sinn“. Die Spielweise eines Teams lässt sich erst verstehen, wenn man die Interaktion der Spieler beachtet. Für ein Tor ist nie nur der Schütze allein entscheidend, denn es ist immer Resultat einer langen Reihe von Kombinationen. Wer nur Ausschnitte eines Spieles sieht, kann den konsequenten Zusammenhang und die Folgerichtigkeit des Geschehens nicht verstehen. Die Beobachtung eines einzelnen Spielers ist vollkommen sinnlos, da seine Aktionen, seien sie auch noch so artistisch, für sich genommen nichts bedeuten. Der mit Sepp Herberger befreundete Schauspieler Bernhard Minetti erkannte in diesem Zusammenhang unmittelbare Ähnlichkeiten zwischen einem Theaterensemble und einer funktionierenden Fußballmannschaft. Herberger, so Minetti, „war ja ein so guter Trainer, weil er die Menschen sehen, erkennen und ihren Beweggründen und Veranlagungen gemäß behandeln konnte“. Und ähnlich habe er, wenn er einmal im Theater zu Besuch gewesen sei, den Schauspieler „im Verhältnis zum Zusammenspiel“ beurteilen können. „Das war immer wieder erregend und überwältigend für mich. Unser beider gemeinsames Wissen: Ensemblespiel im Theater analog dem Mannschaftsspiel Fußball.“
Selbst der schönste Stürmertrick bleibt bloße Spielerei, solange er nicht dem Spiel der ganzen Mannschaft dient, und auch die permanente Balleroberung eines Verteidigers führt zu nichts, wenn er die mit dem Ballbesitz verbundene Spieloption nicht konstruktiv zu nutzen vermag. Deswegen gilt heute immer noch die Ermahnung Sepp Herbergers: Der Zweikampf – sei es in der Offensive oder in der Defensive – darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern man hat in ihm einen nur „durch die Umstände aufgezwungenen Aufenthalt auf dem Wege zum Tor“ zu sehen.
Erst durch eine sinnvolle Kombination von Handlungssequenzen wird aus dem zusammenhanglosen Einzelspiel ein Miteinander, das eine Gesamtleistung erzeugt.
Von größter Bedeutung ist dabei die Ausgewogenheit des Spiels. Das beste Angriffsspiel nützt nichts, wenn dadurch die Abwehr so entblößt wird, dass sie in einem schnellen Gegenstoß locker ausgespielt werden kann; massiert sich dagegen eine Mannschaft zu sehr in der Verteidigung, läuft sie Gefahr, irgendwann dem Druck des Gegners nicht mehr standhalten zu können; konzentriert sich das Spiel zu sehr im Mittelfeld, dann wird es oft so statisch, dass man gar nicht mehr vors Tor gelangt. Ein im Ganzen harmonisches Mannschaftsspiel ergibt sich also erst dann, wenn die Kombinationen zwischen Verteidigung, Mittelfeld und Angriff fließend ineinander übergreifen. Selbst der Torhüter, ansonsten der einzige Einzelkämpfer im Fußball, muss sich bei Abschlag oder Abwurf geschickt verhalten, denn bei ihm fängt jeder Angriff an. Was dann am Ende verglichen und zur Entscheidung gebracht wird, sind daher nicht die aufeinander gerechneten Einzelleistungen von je elf Spielern, sondern die kollektive Leistungsfähigkeit zweier Teams. Die drückt sich in gelungenen Spielzügen und in Torchancen aus, und, wenn eine entsprechende Kaltschnäuzigkeit und das nötige Quäntchen Glück im entscheidenden Moment hinzukommt, auch in Toren.
Erste Aufgabe eines Trainers ist es, unter den ihm zur Verfügung stehenden Spielern die richtige Mischung auszuwählen. Jeder muss überlegen, wie er die ihm zur Verfügung stehenden individuellen Qualitäten am wirkungsvollsten einsetzen kann.
Frankreichs Nationaltrainer Aimé Jacquet hatte 1998 das Glück, eine „Weltauswahl“ präsentieren zu können. In der „Équipe tricolore“, die mit prickelndem Champagner-Fußball den Weltmeistertitel errang und dabei nicht nur die französischen Fans begeisterte, fanden sich sehr talentierte Spieler unterschiedlichster Herkunft zusammen. Um den „Urfranzosen“ Didier Deschamps bildeten Spieler wie Lilian Thuram und Thierry Henry (Guadeloupe), Patrick Vieira (Senegal), Marcel Desailly (Ghana), Zinedine Zidane (Algerien), Youri Djorkaeff (Armenien) und Christian Karembeu (Neu-Kaledonien) ein multikulturelles Team. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, als sei diese Mischung ein Geheimrezept für zauberhaften Fußball. Das französische Team vereinigte viele Qualitäten, die aber natürlich ursächlich nichts mit der ethnischen Herkunft der Spieler zu tun hatten. Entscheidend war die Kombination der Fähigkeiten und Charaktereigenschaften der einzelnen Spieler.
„Elf Kämpfer“, sagte die Trainer-Ikone Hennes Weisweiler, „wachsen ebenso wenig zu einer guten Mannschaft wie elf Techniker.“ Jeder Trainer muss aus technisch versierten, robusten, schussstarken, schnellfüßigen, konditionsstarken, spontanen und intelligenten Spielern eine richtige Mischung formen und sie in den Mannschaftsteilen einsetzen, wo ihre Stärken am besten zur Wirkung kommen. Der ehemalige deutsche Bundestrainer Helmut Schön schwor auf eine Kombination von drei Elementen: auf Spieler, die dafür sorgen, dass sich die Mannschaft diszipliniert und nach System auf dem Platz bewegt (das ordnende Element), auf Individualisten, die mit spontanen Aktionen überraschende Akzente setzen können (das spielerische Element), sowie auf „Männer mit Herz“, die immer Dampf machen und nie aufgeben (das kämpferische Element). Aber nicht nur die Vereinigung der Eigenschaften von Denkern, Musikern und Kriegern ist wichtig. Zu einem funktionierenden „Rezept“ gehören noch weitere Zutaten, etwa die Ergänzung der Tugenden von alten Spielern (Übersicht, Erfahrung) durch die Vorzüge junger Talente (Unbekümmertheit, Tatendrang). Zudem muss die Mischung nicht nur spielerisch, sondern auch „seelisch“ stimmen. Nur wenn die geistige und psychische Zusammen-Stimmung passt, wenn ausgleichende und aggressive Typen ein leistungsförderndes Klima schaffen, wird eine Mannschaft stark. Trotz der enormen Bedeutung, die der mannschaftlichen Geschlossenheit zukommt, gibt oft erst ein Quäntchen individuelles Rebellentum den Ausschlag zum Sieg. Nicht selten sind es gerade die unangepassten, unbequemen und eigenwilligen Ausnahmespieler à la Maradona, die den entscheidenden Schlussstein im Spielerpuzzle setzen.
In früheren Zeiten gab es in jeder Mannschaft eine klare Hierarchie: Bei dem in den 1920er Jahren dominierenden 1. FC Nürnberg gab es als spielbestimmende Figur den Mittelläufer Hans Kalb, dem der konditionsstarke Läufer „Bumbes“ Schmidt zur Seite stand; in der berühmten Gladbacher Mannschaft der 1970er Jahre hielt dem Regisseur Günter Netzer das „Laufwunder“ Hacki Wimmer den Rücken frei; im Weltmeister-Team von 1974 ließ sich der Libero Franz Beckenbauer von seinem „dritten Fuß“ Georg Schwarzenbeck die Gegner weghauen. Nicht alle Spieler einer Mannschaft, so lässt sich daraus schließen, müssen „geniale“ Fußballer sein, denn nicht immer, so Cesar Luis Menotti, der argentinische Weltmeister-Trainer von 1978, ist der „bessere Spieler auch der wertvollere für das Team“. Deswegen war es keineswegs unwichtig, dass Helmut Schön, der dem armen Schwarzenbeck zunächst noch die Tür zur Nationalmannschaft verschlossen hatte – „mit so einem lachen einen doch alle aus“ – später zur Einsicht und mit einem siamesischen „Schwarzenbeckenbauer“ zum WM-Titel kam.
Besonders in deutschen Mannschaften war das Spezialistentum ausgeprägt und die Rollenzuteilung streng. Chefs waren die Spielmacher im Mittelfeld, anerkannt waren die „Bomber“ in der Sturmmitte, bewundert wurden die Dribbelkönige und Flankengötter auf den Flügeln. Der Rest waren die Helfer, die Lungen, die Wasserträger, die Männer fürs Grobe, die den Machern, Vollstreckern und den