Mannschaft einen „Kommandeur“ benötigt, doch in anderen Ländern ist die Vorstellung, dass es „Führungsspieler“ gibt, die durch entsprechende „Komplementärspieler“ ergänzt werden müssen, schon lange zu den Akten gelegt. Heutige Autoren betonen unermüdlich, moderne Teams seien funktionierende Kollektive, die keinen eigentlichen Chef mehr benötigten. Je nach Spielsituation nehme immer wieder ein anderer Spieler eigenverantwortlich den Dirigentenstab in die Hand und gebe den Takt an. Trotzdem gibt es aber wohl immer noch kleine Unterschiede.
Die Feststellung, im modernen Fußball hätten totale Spezialisten nichts mehr zu suchen, ist sicher richtig. Die Zeit, in der es noch reine Stürmer und reine Verteidiger gab und in der ein Mann wie der Argentinier Stabile, dessen Fähigkeiten einzig auf Schnelligkeit und Schusskraft beruhten, zum Torschützenkönig einer WM (1930) werden konnte, sind heute vorbei. Damals waren die Argentinier noch mit der Taktik zum Erfolg gekommen, dass die in der Ballführung perfekten Spieler den Gegner an sich zogen und dann mit dem schnellen Pass in die so entstandenen Lücken den „Abwehr-Filtrierer“ („El Filtrador“) Stabile bedienten. Heute wird jedem Spieler eine außergewöhnliche Vielseitigkeit abgefordert. Während beim Football Spieler eingewechselt werden, um nur eine einzige spezielle Aktion auszuführen, ist der moderne Fußballspieler im Verlauf eines Matches gezwungen, die unterschiedlichsten Aufgaben zu erfüllen: Ein Verteidiger muss auch stürmen können, ein Stürmer muss auch verteidigen können, im Mittelfeld muss die kreative und athletische Arbeit auf mehrere Schultern verteilt werden.
Angefangen habe dieses moderne Spiel, so wird allenthalben erzählt, mit dem „totalen Fußball“ der Niederländer in den 1970er Jahren. Dieses Team war, trotz der überragenden Figur Johan Cruyff, ein Kollektiv, in dem jeder Spieler prinzipiell jede Position ausfüllen konnte. Aber das Kollektiv hatte auch einen Kopf. Cruyff stand wie ein Feldherr dazwischen, korrigierte die Positionen und zeigte Laufwege an. In seiner Funktion für das Team hätte er von dem bulligen Neeskens wohl kaum adäquat ersetzt werden können. Und nicht nur die Leichtigkeit und Finesse, auch die Führungsstärke eines Zinedine Zidane war im französischen Weltmeister-Team genauso unersetzbar wie es heute ein Michael Ballack in der deutschen Nationalmannschaft ist. Beide Beispiele zeigen aber zugleich, dass der Star im klassischen Sinn, der für sich Sonderrechte beansprucht, ausgedient hat. Beide sind herausragende Einzelspieler, ordnen sich jedoch ins Kollektiv ein. Sie wissen, dass sich nicht das Spiel der Mannschaft auf sie, sondern dass sie sich auf das Spiel der Mannschaft einstellen müssen. Kein Team kann sich mehr primadonnenhafte und lauffaule Stars leisten, die aus der Gesamtdisziplin ausscheren.
Grundelement des gelungenen Zusammenspiels sind einstudierte Spielzüge. Gute Mannschaften zeichnen sich immer dadurch aus, dass die Spieler ihr Handeln aufeinander abstimmen können, dass jeder Spieler weiß, wie sich die anderen verhalten, wie sie sich bewegen und wie sie den Ball spielen werden. Im Fußballsport ist Eingespielt-Sein eine Macht, und dementsprechend resultiert aus fehlendem Verständnis fußballerische Ohnmacht. Fehlt das Zusammenspiel, so kommt es zu sinn- und fruchtlosen Einzelaktionen und vielen Ballverlusten, weil sich die Mitspieler nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort befinden. Sinnvolle Spielzüge können nur dann herauskommen, wenn die Individuen sich „verstehen“, wenn sie in der Lage sind, sich wechselseitig in die Erwartungen und Absichten der anderen einzufühlen. Jede Handlung eines Spielers, so der Philosoph und Psychologe George Herbert Mead, „wird von der Annahme über die voraussichtlichen Handlungen der anderen Spieler bestimmt. Sein Tun und Lassen wird durch den Umstand kontrolliert, dass er gleichzeitig auch jedes andere Mitglied der Mannschaft ist, zumindest insoweit, als diese Haltungen seine eigenen spezifischen Haltungen beeinflussen.“ Wenn Spieler in der Lage sind, ihre Aktionen und Reaktionen wechselseitig „wie im Schlaf“ zu kontrollieren, dann kommt dabei eine Mannschaft heraus, die „wie aus einem Guss“ spielen kann, weil der Ball scheinbar selbstverständlich von Spieler zu Spieler läuft.
Erst im Zusammenspiel kann jene Perfektion zustande kommen, die sich auch in Toren auszahlt. Besonders gut funktionierende Sturmreihen wie die – damals noch aus fünf Spielern bestehende – von River Plate Buenos Aires in den 1940er und die von Real Madrid in den 1950er Jahren haben denn auch kollektive Ehrennamen erhalten: Die „River Macquina“ lief geschmiert wie eine Maschine, und das „Weiße Ballett“ der Madrilenen vollzog sich so formschön, als folgte es einer strengen Choreographie. Ähnliche Metaphern fanden Sportjournalisten auch für Abwehrreihen. Willy Meisl schrieb zur brasilianischen WM-Elf von 1958: „Vor dem durchgekommenen Spieler baut sich immer wieder einer der wieselflinken Brasilianer auf. Immer hat man den Eindruck, dass ein gut geöltes, aus genau ineinander gepassten Teilen bestehendes Gitter sich einschaltet, dass irgendwo unsichtbare Knöpfe gedrückt werden, die dieses robotmäßig effektive, aber völlig individualisierte Verteidigungssystem funktionieren lassen.“ Ähnliches ließe sich in der Gegenwart von den „Gummimauern“ italienischer und argentinischer Abwehrreihen sagen. Aber auch über jene Brasilianer, die im Confed-Cup-Finale 2005 eben jene scheinbar so perfekten Argentinier mit 4:1 vom Platz fegten. Wie eine Flipperkugel schoss der Ball zwischen den Robinho, Adriano, Kaká und Ronaldinho hin und her, alles vollzog sich so schnell, dass man kaum noch folgen konnte, und alles geschah derart leichtfüßig, locker und so sicher, als würde da ein Computer-Programm abgespielt. Mochte man da noch einen Einzelnen herausheben? Allenfalls konnte man feststellen, dass man Ronaldo nicht vermisste. Vermutlich hätte er in diesem perfekten Kollektiv auch nur gestört und Sand ins Getriebe gebracht.
Ronaldo gilt als einer von der aussterbenden Spezies jener anarchistischen Spieler, die sich der disziplinierten Arbeit im System verweigern. Noch während der WM 2002 konnte er als i-Tüpfelchen in einer hervorragenden Mannschaft die spielentscheidenden Überraschungsmomente setzen. Solche Spieler, die sich der Fron im Kollektiv nicht fügen, haben den Trainern früher graue Haare wachsen lassen. Trotzdem hätte sich diese der grauhaarige Jupp Derwall wohl ausreißen können, nachdem er sein Enfant terrible, den „blonden Engel“ Bernd Schuster, nur einmal, beim Gewinn der EM 1980, zur Entfaltung hat kommen lassen. Der hätte seiner drögen Truppe bei den Turnieren von 1982 (WM) und 1984 (EM), wo er nicht dabei war, sicher ein wenig Leben einhauchen können. Denn es steht fest: Obwohl der Grundcharakter des Spiels geprägt ist durch die wechselseitige Abhängigkeit der Mitglieder einer Mannschaft, ist es jederzeit möglich, dass ein herausragender Spieler dem Spiel einer Mannschaft seinen Stempel aufprägt. Weil jede Handlung eines Einzelnen Signal ist für die anderen, kann es einem Einzelnen sogar gelingen, seine Mitspieler mitzureißen und zum Sieg zu führen.
Und nicht nur in diesem psychologischen Sinn kann es vorkommen, dass ein Spieler „allein“ ein Match entscheidet. In jedem Spiel gibt es Augenblicke, in denen ein Spieler „sein Herz in die Hand nimmt“ und erfolgreich etwas „auf eigene Faust“ unternimmt. In ganz seltenen Fällen kann es sogar vorkommen, dass einer den Gegner „im Alleingang“ schlägt. Dem Tschechen Josef Masopust gelang 1962 im Maracana-Stadion gegen die Brasilianer ein Slalomlauf, den er mit dem Treffer zum 1:0-Sieg abschloss. Das „Tor des Jahrhunderts“ aber schoss Diego Maradona. Im Viertelfinale der WM 1986 gegen England hatte der Argentinier bereits ein irreguläres Tor mit der Hand erzielt, dann schritt er zur Wiedergutmachung. Noch in der eigenen Hälfte startete er zu einem Solo, bei dem er nacheinander drei Engländer stehen ließ und anschließend auch noch Torhüter Shilton umspielte. Selbst der englische Trainer Bobby Robson war begeistert: „Ein Wundertor. Ein phantastisches Tor. Es ist herrlich für den Fußball, dass es so einen Spieler gibt.“
Maradona prägte sein Team, wie kaum ein anderer es je vermochte. Natürlich wussten auch die Gegner das. Bei der WM 1982 folgten die Italiener dem schlichten Gedanken: Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir Maradona ausschalten. Und so zermürbte ihn Claudio Gentile mit brutalen Tritten. Bei der WM 1986 versäumten das die Engländer und mussten, siehe oben, die Konsequenzen tragen. Die davon schwer beeindruckten Deutschen wollten es im Finale besser machen und konzentrierten sich darauf, das argentinische Ballgenie auszuschalten. Es war dennoch umsonst. Nach der 2:3-Niederlage Deutschlands schrieb die französische Zeitung „Libération“: „Der Sieg des Maradona-Effektes. Im Endspiel dachten die Deutschen nur an ihn. Und die Argentinier in seinem Schatten, seine fast anonymen Partner, haben dies genützt, um das Spiel ihres Lebens zu spielen.“ So wie manche Genies enttäuschen können, so kann auch der Gedanke verhängnisvoll sein, die Ausschaltung des besten Spielers der gegnerischen Mannschaft allein genüge schon zum Sieg.
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