Christoph Bausenwein

Geheimnis Fussball


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ist. Im Mannschaftssport Fußball kann ein Team nur dann erfolgreich sein, wenn sich jeder Einzelne kooperativ in das Ganze einfügt. Einerseits. Andererseits kann der Erfolg gerade davon abhängen, dass der Einzelne sich für einen Moment aus diesem Ganzen herauslöst und etwas Unerwartetes tut. Und beides gilt auch für den Misserfolg: Zu starre Disziplin kann zu unflexibel machen, unbedachte Einzelaktionen können dem Gegner Chancen zum Konter eröffnen. Es bleibt eine nicht hintergehbare Fußball-Tatsache: Jedes Mannschaftsmitglied ist einerseits zwar immer von den Gesamtbewegungen des Kollektivs abhängig, andererseits aber bleibt jede Bewegung auf dem Spielfeld durch die Entscheidungen Einzelner bedingt.

      Der perfekte – man möchte in diesem Zusammenhang sagen: der „mündige“ – Spieler zeichnet sich möglicherweise dadurch aus, dass er erkennt, wann er gegen die Disziplin des Kollektivs verstoßen darf und wann nicht, dass er strenge Vorgaben nicht stur befolgt, sondern sie je nach situativer Angemessenheit neu auslegt und sogar überschreitet. Als Paradebeispiel dafür könnte der geniale und zugleich äußert mannschaftsdienlich spielende Zinedine Zidane genannt werden. Auch wenn er immer versucht, den Ball besonders elegant zu spielen, will er die anderen nicht in den Schatten stellen. Er zieht nicht pausenlos den Ball an sich, sondern er arbeitet im Getriebe des Teams wie ein feinsinniger Mechaniker, der je nach Situation zündende Ideen und kleine Funken einstreut oder aber unprätentiös einen Kollegen in Szene setzt. In einer funktionierenden Mannschaft wie dem französischen Weltmeister-Team gelingt es, den Widerspruch zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und den Erfordernissen des Ganzen aufzuheben.

      Wie eine Mannschaft dann tatsächlich in einem Spiel auftritt, hängt natürlich nicht nur von ihren Bestandteilen ab, sondern auch vom Gegner. Es ist ein ziemlich komplexer Sachverhalt, dass jede Mannschaft nur so spielen kann, wie es die andere zulässt, und somit nicht nur Gegner, sondern Mitspieler zugleich ist. Nicht umsonst heißt es von Mannschaften, die sich ausschließlich auf die Verteidigung des eigenen Strafraums beschränken, sie würden „das Spiel kaputt machen“. Ein – zumindest oberflächlich betrachtet – geradezu langweiliges Spiel ergibt sich dann, wenn zwei nahezu perfekt agierende Mannschaften aufeinander treffen. Im WM-Finale 1994 zwischen Brasilien und Italien lief der Ball in jeder Mannschaft wunderbar, allerdings nur bis zum gegnerischen Strafraum. Dort trafen die Angreifer jeweils auf ein fehlerlos agierendes Kollektiv von Verteidigern. Weil man sich gegenseitig schachmatt setzte, blieben Chancen Mangelware, und das Ergebnis, ein 0:0, war daher geradezu programmiert.

      Glücklicherweise treffen solche perfekten Kollektive nur selten aufeinander. Selten sind auch Spiele, bei denen eine Mannschaft den Ball so gut kontrolliert, dass der Gegner ihn kaum mehr sieht. Normalerweise macht jede Mannschaft Fehler. Und jeder Fehler kann zu einem Tor und damit zu einem ganz „neuen“ Spiel führen. Ein Rückstand zwingt sogar ein zunächst rein defensiv eingestelltes Team, nun selbst die Aktion in der Offensive zu suchen. Die ganze Dramatik des Fußballs zeigt sich freilich erst in Begegnungen, bei denen beide Kontrahenten den offenen Schlagabtausch suchen und das Spiel zwischen beiden Toren hin- und herwogt. Die spannendsten und schönsten Matches entwickeln sich, wenn beide Mannschaften den Willen zum Sieg haben, wenn sie versuchen, „ihr“ Spiel zu machen, anstatt sich allein darauf zu konzentrieren, das Spiel des Gegners nur zu zerstören. Da sie sich dann wechselseitig zu konstruktiven Aktionen herausfordern, kann man sogar davon sprechen, dass sie zugleich gegeneinander und miteinander spielen.

      Den spezifischen Reiz eines gelungenen Fußballspiels – das permanente Hin und Her, den plötzlichen Wechsel der Spielsituationen in Aktion und Reaktion – kann man sich verdeutlichen, wenn man nochmals den Unterschied von Hand und Fuß bedenkt. Bei allen Handballspielen – wozu man aus bereits erwähnten Gründen auch Rugby und Football rechnen muss – ist der Ball nur selten frei zu greifen. Weil er sich permanent im festen Griff irgendeines Spielers befindet, ist es in Spielen wie Handball und Football für den Angreifer äußerst schwierig, sich in Ballbesitz zu bringen. Es gibt im Grunde nur zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen: Entweder erlaubt man, dass der Ball demjenigen, der ihn gerade in Händen hält, gewaltsam entrissen wird, oder man verbietet jede Attacke, sobald ein Spieler den Ball sicher unter Kontrolle hat.

      Zur ersten Lösung tendieren Rugby und Football, während Handball und Basketball zum Gegenteil neigen. Die mit beiden Varianten verbundenen Probleme liegen auf der Hand: Erlaubt man eine Attacke auf den Körper des Gegners, ist man sofort mit der Aufgabe konfrontiert, Mittel und Wege zu ersinnen, wie die so herausgeforderte Gewalt wieder eingeschränkt werden kann. Im Rugby und insbesondere im Football mussten daher äußerst genaue und komplizierte Regeln geschaffen werden, um einerseits schwerwiegende Verletzungen zu vermeiden und andererseits zu verhindern, dass jeglicher Spielfluss in einem Tohuwabohu sich raufend ineinander verkeilender Menschen erstickt wird. Verbietet man den Angriff auf den sicher gehaltenen Ball, liegt das Problem darin, wie der für ein Spiel doch notwendige Ballwechsel zwischen den Parteien überhaupt noch möglich bleiben kann. Tatsächlich ist die Eroberung des Balles ein für das Handball- und Basketballspiel uncharakteristischer Vorgang. Beide Spiele sind nahezu reduziert auf die ununterbrochene Abfolge von Versuchen, ein Tor bzw. einen Korb zu erzielen. Bei Treffern und Fehlversuchen wechselt der Ballbesitz automatisch, und da beides so häufig ist, ist das Hin und Her des Spiels nicht abhängig von Fehlern bei der Ballabgabe.

      Die Frage, wie der Ball im Spiel zwischen den Parteien wechseln kann bzw. soll, ist einzig im Fußball befriedigend gelöst. Die Probleme von Spielen wie Football, Handball oder Basketball – Gewalt und Verregelung einerseits, Mangel an Dramaturgie durch die Vielzahl der Treffer andererseits –, werden im Fußball bereits durch das einfache Verbot des Handspiels vermieden. Einzig beim Fußball bleibt der Ball, weil „ungegriffen“, frei und ist dadurch permanent dem „Zutritt“ des Gegners ausgesetzt. Nie kann sich ein Spieler seines Besitzes sicher sein, gleichzeitig muss er aber auch nicht um Leib und Leben fürchten, wenn andere versuchen, ihrerseits den Ball zu erobern. Weil er ein „offenes“ Spiel ist, muss beim Fußball keineswegs jeder Angriff mit einem Torschuss oder einem Treffer abgeschlossen werden, damit der Ball zum Gegner wechselt; und weil er ein in sich diszipliniertes Kampfspiel ist, kann er auf komplizierte Regeln verzichten, die den Einsatz körperlicher Gewalt regeln müssten.

      Es scheint so, als verberge sich hinter der vermeintlichen Insuffizienz des Fußballspiels – schätzungsweise jede zweite Angriffsaktion endet mit einem Fehlpass! – eine geheimnisvolle Spiel-Stärke. Das durch die Ungeschicklichkeit der Füße verursachte extrem hohe Risiko des Ball-verlusts führt dazu, dass dem Fußball eine elementare Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit im Ablauf des Geschehens eigen ist, die sich mit kaum einer anderen Mannschaftssportart vergleichen lässt. Aussichtsreich scheinende Angriffe enden plötzlich durch überraschende Fehler oder durch das gelungene Tackling eines Verteidigers, schon wendet sich das Blatt, und der eben noch Angreifende wird kalt von einer Konterattacke erwischt. Gerade diese Unvollkommenheit ist also die Voraussetzung für eine Permanenz der Spannung.

      Nirgendwo sonst wechselt der Ball so oft und oft so überraschend zwischen den Mannschaften, nirgendwo sonst ist der Ablauf eines Spiels so unvorhersehbar. Kurz: Weil der Fuß so unzuverlässig ist, kann der Fußball auf komplizierte Regeln verzichten und gleichzeitig zu einem dramatischen Spiel werden, das sowohl durch rassige Zweikämpfe wie durch ein fließendes Hin und Her der Bewegungen gekennzeichnet ist. Oder, paradox ausgedrückt: Der Erfolg des Fußballspiels beruht zu einem großen Teil auf einem Misserfolg – nämlich dem Misserfolg des menschlichen Versuchs, einen Ball mit dem Fuß zu „greifen“.

      SYSTEME

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      Es kann mit Recht in Frage gestellt werden, ob jede Mannschaft mit System spielt. Fest steht aber, dass jede ein System hat. In den 1970er Jahren begann der Autor dieser Zeilen seine eigene bescheidene Fußballer-Karriere in der C-Jugendmannschaft der Sportvereinigung Nürnberg-Ost im damals festgeschriebenen 4-3-3-System. Wir spielten mit zwei Außenverteidigern (Nummer 2 und 3), einem „Libero“ (Nummer 5) plus Vorstopper (Nummer 4) in der Abwehr, zwei Läufern (Nummer 6 und 8) und einem Spielmacher (Nummer 10) im Mittelfeld, vorne mit zwei Außenstürmern (Nummer 7 und 11) und einem Mittelstürmer (Nummer 9). Eine Zeit lang wurde unser Team von einem älteren Mann trainiert, der in seinen taktischen Vorbesprechungen die Begriffe „Mittelläufer“