Pässe zu erlaufen – Spieler, wie etwa den legendären „russischen Pfeil“ Oleg Blochin – wichtiger als die reine Laufgeschwindigkeit ist allerdings die Schnelligkeit in der Reaktion. Beim Kampf um den Ball können Hundertstelsekunden entscheidend sein, nur wer auf den ersten Metern schnell antreten kann, gewinnt oder behält den Ball. Viele große Spieler waren in diesem Sinne schnell. So wussten die Gegenspieler Garrinchas zwar alle, dass er fast immer eine Bewegung nach links antäuschte, um dann rechts mit dem Ball davonzulaufen; aber die Blitzartigkeit von vorgetäuschter und vollzogener Bewegung machte jeden Störungsversuch illusorisch. Desgleichen ist der Gegner machtlos, wenn ein Angreifer antrittsschnell den Abwehrriegel durchbricht; düpiert zeigen sich reaktionslahme Verteidiger nach einem plötzlichen Pass; hilflos ist eine ganze Mannschaft, wenn die gegnerischen Spieler den Ball in atemberaubendem Tempo hin- und herflitzen lassen. Verblüfft sind aber auch oft die Schützen eines herrlichen Tores, wie der ehemalige Trainer Dietrich Weise wusste: „Die Zeit zwischen Entschluss und Erfolg entzieht sich der Berechnung.“
Die Mannschaft, die den Ball mit dem größten Tempo in ihren Reihen zu bewegen vermag, hat zumeist auch die größten Chancen auf den Sieg. Ob und wie häufig das dazu nötige Timing im Passspiel gelingt, hängt wiederum sehr stark davon ab, wie eingespielt eine Mannschaft ist und ob sie während eines Spiels zu ihrem Rhythmus findet. Spieler, die sich gut kennen, „wissen“, wie ihre Mannschaftskameraden sich bewegen und handeln werden, auch ohne dass man vorher eine Verabredung getroffen hätte. In manchen Teams sind die „inneren Uhren“ der Spieler so aufeinander abgestimmt sind, dass der Ball wie ein Weberschiffchen vom einen zum anderen läuft. Eine besondere Feinabstimmung und damit besonders intensives und langes Training erfordern plötzliche Rhythmuswechsel. Hat eine Mannschaft einmal diese Fähigkeit erworben, besitzt sie damit ein besonders wirkungsvolles Mittel zur Überrumpelung des Gegners. Sie kann abwarten, das Spiel langsam machen, den Gegner aus der Abwehr herauslocken oder einschläfern, um dann urplötzlich das Tempo zu wechseln. Tempowechsel und Variationen im Spielrhythmus können wesentlich erfolgreicher und für den Zuschauer auch viel unterhaltsamer sein als ein relativ stupides Anrennen gegen das Tor des Gegners, wie es traditionell die Engländer praktizieren.
„Schnelligkeit“ – in den Beinen und im Kopf – war 1954 eines der Mittel, auf die Sepp Herberger vertraute, um die langsameren Ungarn zu schlagen. Die Temposteigerung, so bemerkte Hennes Weisweiler schon vor Jahren, sei ein grundsätzliches Merkmal der Fußballentwicklung: „Im Droschkenzeitalter vor 50 Jahren spielte man nach der heutigen Auffassung aus dem Stand, im Motorenzeitalter vor dem Krieg mit beachtlicher Geschwindigkeit und im Zeitalter der Düse Düsenfußball.“ Im heutigen Computer-Zeitalter, so lässt sich ergänzen, spielt man Gigahertz-Fußball. Ganz früher standen Leute wie Garrincha und Matthews lange Zeit nur herum. Zu Netzers Zeiten, von denen Weisweiler spricht, lief ein Mittelfeldspieler kaum einmal mehr als fünf Kilometer; heute muss er das Doppelte herunterspulen.
Heute ist zudem eine bessere Technik gefordert, da der Ball oft unter Bedrängnis verarbeitet werden muss. Je stärker Athletik und Kondition geworden sind, desto weniger Zeit haben die Spieler bei der Annahme des Balles; immer ist schon jemand da, der ihnen auf den Füßen steht. Credo des modernen Spiels – dort, wo gerade der Ball ist, in Überzahl kommen, gleichgültig, ob nun in der Defensive oder in der Offensive – erfordert ununterbrochene Laufarbeit, um die Wege zum Ball möglichst kurz zu halten. Auf dem Platz findet inzwischen eine Art Wettrennen zweier gut organisierter Einheiten statt. Dennoch ist nicht immer gesagt, dass die am perfektesten funktionierende und am schnellsten reagierende Organisation gewinnt. Im Endspiel des Confed-Cups 2005 konnten die Argentinier ihr Defensivnetz gar nicht so schnell aufbauen, wie die Brasilianer kombinierten. Ihrem Tempo war nicht zu folgen. Und sie ließen nicht nur den Ball laufen. Wenn einer beim Dribbling den Ball verlor, kam aus seinem Schatten sofort ein zweiter, um den verlorenen Ball sofort wieder zurückzuerobern.
Kollektiv agierende Teams mit hohen individuellen Qualitäten, die sich permanent in Bewegung finden und ihre Kurzpass-Kombinationen schnell und sicher vortragen, geben heute den Ton an. Zu schlagen sind sie nur, wenn sie psychisch und vor allem physisch schwächeln. Bei der WM 2002 und bei der EM 2004 wirkten die bis dahin so dominanten Franzosen ausgelaugt. Stattdessen taten sich mit Fitness, Laufstärke und Disziplin Außenseiter-Teams wie die USA und Südkorea hervor. Es zeigte sich: Gerade bei großen Turnieren können sich ausgeruhte und gut aufeinander eingespielte Mannschaften hervortun und sich Vorteile erarbeiten gegenüber den Favoriten, deren Spieler durch eine lange Saison überbeansprucht sind. Und der von dem deutschen Erfolgstrainer Otto Rehhagel betreute krasse Außenseiter Griechenland zeigte bei der Europameisterschaft 2004 sogar, dass man immer noch einen Angreifer sich „totlaufen“ lassen kann, um dann in klassischer Konter-Art über die Außenpositionen per Flanke nach innen zum Erfolg zu kommen.
Selbst wenn die Behauptung zutreffen sollte, dass durch die Temposteigerung zum spielerischen Raffinement immer weniger Zeit bleibt, würde ein langsameres Spiel die an solches Tempo nun gewöhnten Zuschauer vermutlich nur langweilen. In heutigen Spielen erfolgen die Ballkontakte im Sekundenrhythmus. Das Fußball-Tempo liegt damit genau in einem Bereich, dem das Auge noch folgen kann, ohne überfordert zu sein. Läge die Quote höher, würde die Aufmerksamkeit der Zuschauer während des Spiels nachlassen (was zum Teil beim Eishockey der Fall ist); läge sie niedriger, würden die Gedanken der Zuschauer aus Langeweile abschweifen. Die Verdoppelung des Spieltempos und die gestiegene räumliche Komplexität der Abläufe verlangt den Zuschauern mittlerweile allerdings doppelte Aufmerksamkeit ab, wenn sie das Geschehen wirklich verstehen wollen.
Eine weitere Besonderheit des Fußballs gegenüber manchen anderen Sportarten ist darüber hinaus der nahezu ununterbrochene Zeitfluss. Während andere Sportarten immer wieder abbrechen und neu anfangen – beim Football formieren sich die Mannschaften bei jedem Spielzug neu, beim Handball und beim Basketball sind die Unterbrechungen Folge der Vielzahl der Tore – könnte ein Fußballspiel zumindest theoretisch pro Halbzeit 45 Minuten lang nonstop ablaufen. Zwar beträgt die gesamte Realspielzeit im Durchschnitt nicht mehr als 60 bis 70 Minuten, aber das ist im Vergleich zu anderen Spielen immer noch eine sehr hohe Quote. Unterbrechungen gibt es nur, wenn der Ball aus dem Feld geschlagen wird, bei Fouls und Toren sowie zur Halbzeit. Bei Spielen mit permanenten Unterbrechungen und Auswechslungen wäre undenkbar, dass sich eine Mannschaft in einen Rausch spielt.
Aber selbst dann, wenn das Spiel äußerst einseitig scheint, darf der Zuschauer keine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit nachlassen. Selbst in den einfachsten Situationen kann urplötzlich etwas völlig Überraschendes passieren: Ein Torwart lässt einen harmlosen Schuss abprallen, oder ein Verteidiger stolpert unverhofft über den Ball, und schon eröffnet sich für den Stürmer eine Chance; ein Angriff misslingt, weil der Ball verspringt, schon verlagert sich das Spiel wieder blitzschnell auf jenes Tor, das gerade noch keinerlei Bedrohung ausgesetzt war. „Kleine Situazione entscheiden große Spiele”, lautet ein Credo des Trainers Giovanni Trapattoni. In jedem Moment muss jeder Spieler aufmerksam sein, um solche „Situazione“ gewinnbringend zu nutzen. Und jeder Zuschauer hat immer mit allem zu rechnen: Alles ist im Fluss, alles kann gelingen oder schief gehen, nie kann man sich sicher sein, was der nächste Augenblick bringen wird. Beim Fußball „springt“ die Zeit gleichsam von Gegenwart zu Gegenwart, und weil jedes Tor schon die Entscheidung bringen kann – aber eben auch nicht muss –, wechseln Hoffnung und Verzweiflung pausenlos einander ab. Bei kaum einem anderen Sport entstehen derart abrupt gänzlich neue Situationen, und so darf man wohl annehmen, dass genau dies viel beiträgt zu der Erregung, die man als Zuschauer beim Fußball empfinden kann.
Beim American Football hingegen beruht das gesamte Spiel auf im Training auswendig gelernten Spielzügen, von denen auf ein Zeichen hin diejenigen abgerufen werden, die eine hinreichend große Erfolgswahrscheinlichkeit garantieren. In anderen Spielen und Sportarten – vor allem bei den Laufdisziplinen in der Leichtathletik – können zeitliche Abläufe vorstrukturiert und geplant werden. Nicht so beim Fußball. Der schnelle Bewegungsfluss und das ununterbrochene Vor-und Zurückwogen der Kontrahenten machen ein Fußballspiel letztlich unberechenbar. Zwar kann ein Trainer taktische Anweisungen geben, zwar können Spielzüge im Training so oft wiederholt werden, bis die Spieler wie im Schlaf kombinieren – am Tag des Spiels wird das alles zur Makulatur, wenn der Gegner, der Verlauf des Spiels oder der Zufall es anders wollen. Einzig bei den Standardsituationen (Freistöße, Eckstöße) sind vorab