effektiv ausfallen. Gleichzeitig führt die Unterschätzung perspektivisch dazu, dass Psychotherapeuten sich in den Therapien mit älteren Patientinnen verausgaben und irgendwann erschöpft zurückziehen.
Es besteht allerdings nicht nur die Gefahr einer negativen Form der Voreingenommenheit gegenüber älteren Patienten. Vielmehr gibt es bei Psychotherapeutinnen auch das Phänomen der Bewunderung und Idealisierung alter Patientinnen, ganz im Sinne des positiven Altersstereotyps. So äußern Psychotherapeuten regelmäßig großen Respekt gegenüber der Lebenserfahrung älterer Patienten und verhalten sich besonders freundlich, zugewandt und zuweilen geradezu ehrfürchtig (Boschann et al. under review). Durch eine Tendenz zur übertriebenen Positivbewertung und zur Konfliktvermeidung bleiben sie damit therapeutisch jedoch letztlich eher distanziert und gehen weniger auf die tatsächlichen Probleme der Patientinnen ein. Damit droht auch die spiegelbildliche Gefahr einer Überschätzung von Widerstandsfähigkeit und Veränderungsmöglichkeiten älterer Patienten.
Aus fachlicher und ethischer Sicht, aber auch im Sinne der Selbstfürsorge, ist es daher in der Arbeit mit älteren Patientinnen essenziell, dass sich Psychotherapeutinnen ihre eigenen Altersbilder bewusstmachen und sich mit diesen auseinandersetzen (Kessler und Bowen 2015; Bodner et al. 2018). Dazu gehört die Selbstreflexion sowohl bezüglich Altersfremdbildern, also Vorstellungen von alten Menschen im Allgemeinen, als auch von Altersselbstbildern, also Vorstellungen vom eigenen Altwerden und Altsein. Je weniger es gelingt, eigene Vorurteile und Ängste aus dem Bewusstsein herauszuhalten, desto größer ist das Risiko für abwehrende Haltungen gegenüber älteren Patienten. Dies kann sich im Erleben von negativen Gefühlen wie Unaufmerksamkeit, Langeweile, Ärger, Aversion oder Ekel im Kontakt mit älteren Patientinnen ausdrücken (Agronin 2010).
Das vorliegende Buch soll Psychotherapeuten dabei unterstützen, eine differenzierte Sicht auf das Alter zu entwickeln, welche die Potenziale und Chancen des Alters umfasst, aber auch dessen Herausforderungen, Risiken und Vulnerabilitäten (
Kasten 1.1: Übung zur Selbstreflexion eigener Altersbilder
• Was sind typische Annahmen und Vorurteile über alte Menschen im Kontext von Psychotherapie?
• Finden Sie, dass das Leben noch lebenswert ist, wenn man eine begrenzte Zeitperspektive, viele verschiedene Krankheiten und eine eingeschränkte Lebensqualität hat?
• Fällt Ihnen spontan eine Begegnung/Erfahrung mit einem älteren Menschen ein, der Sie in besonderer Weise geprägt hat?
• Welche Assoziationen (Gedanken, Gefühle) haben Sie, wenn Sie sich einmal in der Zukunft als alten Menschen vorstellen? Wie alt sind Sie dann? Wie passt dieses Bild von Ihnen in das Bild eines »typisch alten« Menschen?
• Welche Hoffnungen und Erwartungen, welche Ängste haben Sie in Bezug auf Ihr eigenes Alter(n)?
1 Die Verfasserin verwendet im Folgenden abwechselnd (nur) eine generische Form, wenn sie von Personen spricht: Ist bspw. von Psychotherapeutinnen, Patienten, Ärztinnen oder Psychologen die Rede, stehen diese – sofern nicht ausdrücklich anders erwähnt – stets für alle Geschlechter bzw. Genderformen.
2 Historischer Abriss und aktueller Stand des Forschungsfeldes
2.1 Die Anfänge: von Freud bis in die 1960er-Jahre
Die Begründer der modernen Psychotherapie hatten sicherlich weder alte noch sehr alte Menschen im Sinn, als sie Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts eine Behandlungsform für psychisches Leiden durch Hypnose und die Psychoanalyse entwickelten. Entsprechend finden sich bis in die 1930er-Jahre hinein keine Abhandlungen über Patientinnen dieser Altersgruppe. Wenn überhaupt, dann wurde das höhere Lebensalter eher als Kontraindikation für eine Psychotherapie betrachtet. Ein mittlerweile »klassisches« Zitat Sigmund Freuds (1905, S. 21 f) verdeutlicht diesen therapeutischen Nihilismus anschaulich, wobei es sicherlich nur im historischen Kontext einer noch erheblich jüngeren demografischen Bevölkerungsstruktur und eines anderen gesellschaftlichen »Altersklimas« verstehbar ist:
»Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur psychoanalytischen Behandlung insofern eine Rolle, als bei Personen nahe an oder über fünfzig Jahre einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und als andererseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert.«
Allerdings gab es schon bald vereinzelt andere Stimmen wie die von Karl Abraham (1920), wonach nicht das Alter des Patienten, sondern vielmehr das Alter der Neurose als Indikationskriterium den Ausschlag geben sollte (Kessler und Peters 2017). Erst im Verlauf der 1930er-Jahre wurde das höhere Lebensalter erstmals Gegenstand psychologischer Betrachtung. Auch wenn sie keinen direkten Bezug zur Psychotherapie herstellen, sind aus historischer Sicht die bedeutsamen Arbeiten der deutschen Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler (1933) zu nennen: Anhand von Interviewdaten arbeitete diese heraus, in welcher Weise individuelle Alternsverläufe in hohem Maße von der jeweiligen Biografie von Menschen geprägt sind. Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker C.G. Jung führte bereits Therapien mit älteren Menschen durch. Dabei vertrat er die Annahme, dass es sich beim höheren Lebensalter um die wertvolle Lebensphase der Individuation handelt, in der sich die Persönlichkeit des Menschen vervollständigt.
»Der Mensch würde gewiß keine siebzig und achtzig Jahre alt, wenn diese Langlebigkeit dem Sinn der Spezies nicht entspräche. Deshalb muß auch sein Lebensnachmittag eigenen Sinn und Zweck besitzen und kann nicht bloß ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein.« (zitiert nach Alt 1989, S. 159)
Neben C.G. Jung beschäftigte sich auch der heute in Vergessenheit geratene Berliner Mediziner, Psychologe und Philosoph Alexander Herzberg bereits in seinem 1934 veröffentlichten Werk mit der Behandlung älterer Patientinnen auf der Basis von abgestuften Aufgaben und Übungen, die an Vorläufer der Verhaltenstherapie erinnern (Herzberg 1945).
Der Nationalsozialismus hatte für die langsam aufkommende Alternsforschung und die Behandlung älterer Menschen schmerzliche Konsequenzen (Wahl und Heyl 2015). Die Medizin jener Zeit stand dem Alter verachtend gegenüber, wie in diesem Zitat des Arztes und NSDAP-Politikers Walther Schultze zum Ausdruck kommt:
»Gerade auch das Alter hat seine Sünden. Ein weichlicher, aus der Vergreisungsatmosphäre kommender Kult der Alten ist widernational.« (Schultze 1940; zitiert nach Kondratowitz 2000. S. 150)
Im sog. III. Reich herrschte ein offizieller Diskurs vor, der das höhere Lebensalter als »Rückwandlungsjahre« bzw. »Rückbildungsalter« betrachtete, Menschen mit Demenz und Pflegeheimbewohner wurden in Euthanasieaktionen ermordet.
Im Gegensatz dazu war die Gerontologie in den USA in der Zeit um das Ende des Zweiten Weltkriegs herum bereits weit entwickelt und institutionalisiert. Unter anderem lagen dort bereits groß angelegte Längsschnittstudien vor. Allerdings taucht erst Ende der 1940er-Jahre ein zaghaftes wissenschaftliches und klinisches Interesse an psychotherapeutischen Behandlungen älterer Menschen in der Literatur auf.
2.2 Der Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre
Wesentlich für die deutlich voranschreitende, positive Entwicklung der Alternsforschung