Eva-Marie Kessler

Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen


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etwa in Bezug auf Werteorientierungen

      • wachsende sozioökonomische Unterschiede und das damit einhergehende Phänomen der Altersarmut

      • vielfältige soziale Lebensformen, bspw. die wachsende Gruppe alleinlebender alter Menschen

      • Migrationserfahrungen, die das Alter diverser werden lassen, etwa ältere Arbeitsmigranten, die in den 1960er- und 1970er-Jahren als junge Menschen nach Deutschland gekommen sind

      • ein auch im Alter beobachtbares, größer werdendes Spektrum politischer und weltanschaulicher Haltungen, das z. B. die sog. »68er« umfasst

      • Pluralität sexueller Orientierungen und Identitäten

      • Diversität als Folge unterschiedlicher Möglichkeiten der sozialen Teilhabe etwa im Zusammenhang mit angeborener oder erworbener Behinderung

      3.2 Ist Alter ein Kriterium in der Psychotherapie?

      Bedeuten die bisherigen Ausführungen, dass das Alter von Patientinnen gar keine Rolle spielt, oder dass ein hohes Alter für das psychotherapeutische Arbeiten nur einen »Pluspunkt« darstellt? Keineswegs kann und soll die Faktizität des Alters geleugnet werden, solange dieses gleichzeitig nicht vorrangig unter der Überschrift des Abbaus und Verfalls subsummiert wird. Am deutlichsten drückt sich diese Faktizität in der Vielschichtigkeit und dynamischen Komplexität der Lebenssituation im Alter aus (Kessler et al. 2014). Dies betrifft auch die komplexe psychische Symptomatik älterer Patientinnen, wie die nachfolgende Kasuistik (image Fallbeispiel 3.1) verdeutlicht.

      Frau O. (89 Jahre) ist eine Patientin, die im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in einer Entführungsaktion des Vaters von ihrer Mutter getrennt wurde und in einem streng geführten Klosterinternat in Hamburg aufwuchs. Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie während ihrer Schwangerschaft vom Vater des ungeborenen Kindes verlassen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass dieser bereits mit einer anderen Frau verheiratet war und parallel ein Kind erwartete. Frau O. zeigte seither wiederkehrende subklinische Angst- und Depressionssymptome. Neben Affären zu verheirateten Männern ging sie als alleinerziehende Mutter keine Beziehung mehr ein. Sie war immer sehr aktiv, hatte einen großen Freundeskreis und wurde als Filialleiterin eines Modehauses von Kunden und Vorgesetzten sehr geschätzt. Zu ihrer Tochter hatte sie ein konkurrenzbetontes, aber vordergründig harmonisches Verhältnis. Vor Beginn der Therapie litt die Patientin nach einem Schlaganfall, zunehmend starker Seh- und Hörbeeinträchtigung und dem Rückzug ihrer Tochter, die im Zuge einer Krebserkrankung den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte, bereits ca. zwei Jahre unter einer manifesten depressiven Episode mit hoher innerer Anspannung. Nach einem kognitiven Screening (MMSE= 27) und in Einklang mit der Einschätzung der Pflegekräfte lag keine substanzielle kognitive Beeinträchtigung vor. Seit einem Jahr kam sie dreimal pro Woche in eine Tagespflegeeinrichtung, in der die engagierte Pflegedienstleiterin den Kontakt zu der Therapeutin herstellte. Die Patientin zeigte sich als sehr therapiemotiviert, und eine ambulante Verhaltenstherapie wurde von der gesetzlichen Krankenkasse genehmigt. Als ein zentrales Therapieziel wurde vereinbart, einen versöhnlicheren Umgang mit der Tochter zu finden und sich dabei auch mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Ein weiteres Therapieziel bestand in der Planung ihrer letzten Lebenszeit vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden Unselbständigkeit. Nach der 10. Therapiesitzung kam die Patientin nach einem Sturz für vier Monate in ein Krankenhaus, wo auch der schlecht eingestellte Blutzucker behandelt wurde (Diabetes mellitus Typ 2) und zog danach nicht wieder in ihre Wohnung ein, in der sie seit 1955 gelebt hatte. Sie siedelte mit Unterstützung der dreißig Jahre jüngeren Nichte, die die einzige Bezugsperson war und zu der sie ein vertrauensvolles Verhältnis hatte, in ein Pflegeheim um. Dort traf die Therapeutin auf eine Patientin, die in der Zwischenzeit unter erheblichen Gedächtnisdefiziten litt und zeitlich und örtlich teilweise desorientiert war. Ungünstigerweise war nur ein Zimmer in einer Wohngruppe für Menschen mit weit fortgeschrittenem Stadium von Demenz frei. Die Patientin litt unter Gefühlen der Einsamkeit, des Verlassen-Seins und der Nutzlosigkeit und war froh und erleichtert über jeden Kontakt zur Psychotherapeutin. Sie klagte bei jeder Sitzung über die Tatsache, dass ihre Tochter sie nicht besuchen käme; eine Reflektion der genauen Umstände des Kontaktabbruchs war nicht möglich. Sie entwickelte auch starkes Misstrauen gegenüber ihrer Nichte, die ihren Umzug in Absprache mit ihr im Jahr zuvor vorbereitet hatte. Eine sprachliche Verständigung mit der Therapeutin war aufgrund starker Hörbeeinträchtigung schwierig, zumal die Fähigkeit zum Lippenlesen aufgrund der sehr schlechten Sehfähigkeit stark eingeschränkt war.

      An diesem Fallbeispiel zeigt sich exemplarisch etwas, was in der Konsequenz für die psychotherapeutische Diagnostik und Therapie ausgesprochen bedeutsam ist – nämlich, dass die psychische Situation im hohen und besonders im höheren Lebensalter mehr als in allen anderen Altersphasen zuvor in zunehmendem Maße als eine Konfiguration eines hoch komplexen und dynamischen Entwicklungsprozesses zu verstehen ist (Kessler et al. 2014). Dies bedeutet auch, dass psychische Erkrankungen alter und vor allem sehr alter Menschen eine Multiplikation kognitiver, emotionaler, motivationaler wie auch sozialer und räumlich-technologischer Defizite (und Ressourcen) darstellen, die sich über das ganze bisherige Leben hinweg akkumuliert haben. Dies drückt sich folglich in einer beträchtlichen intrapsychischen Komplexität und Variabilität der psychischen Situation aus.

      Legt man eine solche Konzeptionalisierung psychischer Erkrankungen im Alter zugrunde, tritt damit die Frage nach der Altersspezifität psychischer Erkrankungen (etwa die Behauptung, dass sich Depression im Alter somatisch ausdrücken würde) zugunsten der Feststellung enormer Einzigartigkeit der psychischen Situation in den Hintergrund. So war die depressive Symptomatik bei Frau O. eine komplexe und letztlich nicht zu entwirrende Interaktion aus lerngeschichtlichen Erfahrungen des Verlassenwerdens und deren Aktualisierung durch den Kontaktabbruch der Tochter, pathologischen neurobiologischen Veränderungen bei Vorliegen multipler Erkrankungen, zunehmender Unselbstständigkeit durch eingeschränkte Mobilität und sensorischer Beeinträchtigung, aber auch dem Einzug ins Pflegeheim und mangelnder sozialer Einbindung vor Ort.

      Insgesamt leitet sich aus den Ausführungen ein therapeutischer Ansatz ab, wonach psychotherapeutisches Arbeiten mit älteren Menschen immer einen Balanceakt erfordert, der darin besteht, den älteren Patienten einerseits vor dem Hintergrund seiner biografisch begründeten Individualität einschließlich persönlicher Stärken, Präferenzen und Bedürfnisse und andererseits in Bezug auf normative und alterstypische Entwicklungsverläufe zu betrachten (vgl. Laidlaw et al. 2004). Oder vereinfacht formuliert, den Patienten so zu sehen, wie man jede andere Patientin sehen würde, und ihn gleichzeitig vor dem Hintergrund seines hohen bzw. sehr hohen Alters zu sehen. Dies impliziert auch, dass das hohe Lebensalter von Patienten nur einer von vielen, in der Psychotherapie zu berücksichtigen Faktoren ist, dass es aber dennoch einen groben heuristischen Wert besitzt. Ein alterssensibles therapeutisches Vorgehen kann demnach im Einzelfall Folgendes bedeuten:

      • Bei der Therapieplanung für ältere Patientinnen innerhalb eines Pools von existierenden verfahrensspezifischen Methoden diejenigen bevorzugt auszuwählen, die der altersspezifischen Entwicklungsdynamik besonders gerecht werden. So wird beispielsweise in der psychodynamisch orientierten Literatur argumentiert, dass strukturbezogene Psychotherapie ein besonderes Potenzial für die Arbeit mit der Patientengruppe besitze, während konfliktbezogene Methoden tendenziell als weniger förderlich betrachtet werden (image Kap. 2.4). Ebenso wird die Interpersonelle Psychotherapie (image Kap. 8.8) durch ihren Fokus auf interpersonelle Probleme durch Verluste und Übergänge als geeignet für ältere Patienten beschrieben.

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