Eva-Marie Kessler

Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen


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auf die Lebensqualität der Betroffenen (Orrell et al. 2017).

      Neben der KST liegen in Deutschland zwei neuere kognitiv-verhaltenstherapeutische Manuale zur Behandlung von Menschen mit leichter Alzheimer-Demenz vor (Werheid und Thöne-Otto 2010; Forstmeier und Roth 2018), wobei die Evidenz hierzu noch vorläufig, wenngleich vielversprechend ist. Während die KST primär auf Verbesserung kognitiver und sozialer bzw. funktioneller Funktionen durch kognitive Stimulation abzielt, steht hier die Behandlung der affektiven Symptomatik entlang des klassischen KVT »Dreischritts« (d. h. Aktivitätsaufbau, kognitive Umstrukturierung, Soziales Kompetenztraining) im Mittelpunkt, ergänzt durch Einbezug von Bezugspersonen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Depression ein Risikofaktor für das Auftreten sowie die Progression von Demenz darstellt. Eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Depressionstherapie wird in diesem Sinne als progressionsverzögernde, symptomatische Form der Demenzbehandlung angesehen. Insgesamt betrachtet haben sich nach bisherigen Befunden im Bereich psychologischer Interventionen bei Demenz Multikomponenten-Ansätze und das Gruppenformat bewährt. Ein Forschungsdefizit besteht noch in Bezug auf Fragen nach langfristigen Wirkeffekten sowie nach verschiedenen Formen und Schweregraden von Demenz und Wirkmechanismen (McDermott et al. 2019).

      3 Gibt es eine spezifische »Alterspsychotherapie«?

      Wie in Kapitel 2 dargestellt, ist Psychotherapie für ältere Menschen seit etwa vier Jahrzehnten im Begriff, sich nach und nach als eigenes Forschungsfeld zu etablieren. Doch was auf den ersten Blick als ein klar beschriebenes, eng umrissenes wissenschaftliches Gebiet anmutet, erweist sich bei näherer Betrachtung tatsächlich als weit weniger klar definiert. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Alter(n) ein Konstrukt ist, welches deutlich komplexer als das ist, was stereotype Altersbilder suggerieren.

      3.1 Was bedeutet Alter(n)?

      In diesem Buch wird der im deutschen Sprachraum häufig verwendete Begriff der »Alterspsychotherapie« vermieden, um die ungewünschte Konnotation zu vermeiden, dass es sich um die Behandlung von Menschen aufgrund ihres Alters handelt (Kessler und Tegeler 2018). Nach einer lebensspannenpsychologischen Definition ist Altern – entgegen einem rein biologischen Verständnis – kein eindimensionaler Abbauprozess nach einer Phase der Entwicklung in der ersten Lebenshälfte (Baltes et al. 2007). Mit anderen Worten, Altern ist nicht das Gegenteil von Entwicklung. Altern ist vielmehr ein biopsychosozialer Prozess, und im höheren Lebensalter treten – wie in jeder Altersphase – in den verschiedenen Funktionsbereichen des Individuums Gewinne und Verluste auf. Anhand des in der Lebensspannenpsychologie beschriebenen, empirisch gut belegten Wohlbefindensparadoxon (z. B. Charles und Carstensen 2010) im Alter lässt sich dieses Verständnis von Altern als multidirektionaler, multidimensionaler Prozess gut beschreiben. So zeigt die empirische Forschung, dass es im Verlauf der zweiten Lebenshälfte normative und alterstypische Entwicklungsverluste im Bereich der körperlichen Vitalität, der fluiden Intelligenz und der sozialen Netzwerke gibt. Gleichzeitig ist der Alternsverlauf für das durchschnittliche subjektive Wohlbefinden über das Erwachsenenalter hinweg wesentlich stabiler, und auch psychische Erkrankungen kommen nach epidemiologischen Befunden – mit Ausnahme der Demenz – bei älteren Menschen seltener vor (image Kap. 4.2). Das Wohlbefindensparadox illustriert damit auch, dass aus psychotherapeutischer Perspektive Alter(n) per se kein behandlungsbedürftiger Zustand ist. Denn auch wenn vor allem im sehr hohen Alter nach Baltes (1997) »Mangelzustände und Grenzerfahrungen« häufig sind, geben beispielsweise nach Befunden der Heidelberger Hundertjährigen-Studie (Jopp et al. 2016) acht von zehn der Hundertjährigen an, mit ihrem Leben zufrieden zu sein.

      Nähert man sich weiter der Frage nach der spezifischen Kontur des Forschungsfeldes Psychotherapie im Alter, dann stellt sich die Frage, ob das chronologische Alter nicht möglicherweise dessen definitorisches Kernmerkmal darstellen könnte. Und in der Tat setzt im Versorgungssystem eine soziale Definition des »älteren Patienten«, welche sich am Renteneintrittsalter festmacht, ab dem ca. 65. Lebensjahr an. Eine so definierte Altersgrenze bietet die Chance, dass für im Alter typische Erkrankungsbilder und Lebenslagen spezialisierte Versorgungsangebote gemacht werden können (Holthoff 2015). Aber auch in der gerontopsychiatrischen Versorgungspraxis stellt das chronologische Alter lediglich eine Heuristik dar, und so sind auf gerontopsychiatrischen Stationen mittelalte Patienten mit einer sog. Alzheimer-Erkrankung mit frühem Beginn (Lopera et al. 1997) selten, aber nicht untypisch.

      Aus lebensspannenpsychologischer Sicht verwischt aber selbst eine nur heuristisch verwendete Altersgrenze den Umstand, dass die Behandlung älterer Menschen nicht die Behandlung einer homogenen Gruppe ist. Es ist gut belegt, dass die Heterogenität von Individuen im höheren Lebensalter so hoch ist wie in keiner anderen Altersgruppe, weshalb das chronologische Alter für sich genommen ein eher schlechter Indikator für Ressourcenlage, Erleben und Verhalten von Patientinnen ist (Baltes et al. 2007). Das chronologische Alter als Altersgrenze relativiert sich auch dadurch, dass eine Reihe von Studien gezeigt hat, dass für späte Entwicklungsverläufe (z. B. in den Bereichen geistige Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden und Pflegebedürftigkeit) der (zeitliche) Abstand vom Tod (»distance to death«) eine bessere Erklärung als das chronologische Alter bietet (Diegelmann et al. 2016). Und schließlich sagt das chronologische Alter relativ wenig über das gefühlte Alter aus. Es ist gut belegt, dass sich Menschen in der zweiten Lebenshälfte subjektiv jünger fühlen (durchschnittlich um 20 %) als sie tatsächlich sind (Rubin und Berntsen 2006). Entsprechend grenzt man in der Gerontologie auch das chronologische Alter vom biologischen, sozialen und psychologischen (einschließlich des subjektiven Alters) ab.

      Bezieht man sich dennoch auf 65+ als Definitionskriterium für das höhere Lebensalter, ist in Anlehnung an die in der Gerontologie übliche Unterscheidung zwischen den »jungen« versus den »alten Alten« bzw. den »alten« (ab 65 Jahren) versus »sehr alten« bzw. »hochaltrigen« Patienten (ab 80/85 Jahre) sinnvoll und notwendig. Bei Letzteren handelt es sich im Übrigen um die am stärksten wachsende Alters- und damit Patientengruppe in Deutschland (Motel-Klingebiel et al. 2012). Es ist damit zu rechnen, dass 2060 etwa 13 % der Bevölkerung – das ist etwa jeder Achte – 80 Jahre und älter sein wird, während es aktuell 6 % sind. Außerdem existieren die Populationsbezeichnungen »Centenarians« (100 Jahre und älter) und »Supercentenarians« (110+). Diese sprachlichen Differenzierungen spiegeln die Tatsache, dass die heute 65-Jährigen mittlerweile im Durchschnitt noch 21 bzw. 18 weitere Lebensjahre (Frauen/Männer) erwarten dürfen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2019). Außerdem verändern sich im Zeitintervall zwischen 65 bis über 100 Jahren die Entwicklungsaufgaben, insbesondere auch im Zuge des steigenden Risikos für vielfältige organische, psychische oder soziale Funktionseinbußen. Über die Lebensphase Alter hinweg finden sich entsprechend deutliche Anstiege der Verbreitung von Multimorbidität, Demenz, Pflegebedürftigkeit sowie ein zunehmender Institutionalisierungsgrad (Motel-Klingebiel et al. 2012). Auch um Stigmatisierung zu vermeiden, sollte nicht von »den Älteren« bzw. »den Alten« gesprochen werden, sondern nach Möglichkeit die inklusivere Sprachwendung »wir, wenn wir älter werden« verwendet werden.

      Die hohe Heterogenität innerhalb des höheren Lebensalters, welche das Forschungsgebiet Psychotherapie im Alter durchzieht, ist darüber hinaus das Ergebnis anderer Dimensionen der Diversität. Dies macht das psychotherapeutische Arbeiten mit der Patientengruppe im Übrigen ausgesprochen facettenreich. So umfasst das Spektrum älterer Patientinnen Mitglieder von Kohorten mit sehr unterschiedlichen historischen und kulturellen Prägungen. Dazu gehören derzeit hauptsächlich die sog. Kriegskinder (geboren 1930–1945) und die Nachkriegskinder (1945–1950), während Angehörige der Generation der Vorkriegskinder (vor 1930 geboren), auf die sich vor allem die frühe Forschungsliteratur zu Psychotherapie im Alter bezieht, mittlerweile sehr selten geworden sind. Auch die frühen Babyboomer (ab 1955 geboren), von denen erste inzwischen das Rentenalter erreichen, werden in den nächsten Jahren zu den älteren Patientinnen gehören.

      Diversitätsmerkmale innerhalb der älteren Bevölkerung, die von Psychotherapeutinnen berücksichtigt werden müssen, sind mannigfaltig (Alisch und Kümpers 2015). Dazu zählen neben der Zugehörigkeit über die durch ihr chronologisches Alter definierte