Eva-Marie Kessler

Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen


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Literatur (image Kap. 8.3) werden beispielsweise folgende Modifikationen genannt: Gesprächsfokussierung; langsameres, vereinfachtes Vorgehen; multimodale Instruktionen und Gedächtnishilfen; Pausen und verkürzte Sitzungen (Forstmeier und Maercker 2009).

      • Das therapeutische Vorgehen um Ansätze zu erweitern, die in der Vergangenheit speziell für das höhere Lebensalter entwickelt wurden. Dazu gehört insbesondere die Lebensrückblicktherapie (image Kap. 8.6), die als eigenständiger Ansatz aus der Entwicklungspsychologie und gerontologischen Praxis (und nicht aus einem Psychotherapieverfahren) heraus entwickelt wurde. Außerdem gibt es alterssensible Erweiterungen von Psychotherapie, etwa wenn es um den Einbezug des sozialen Umfeldes (image Kap. 8.10) oder Techniken im Umgang mit alterstypischen Erkrankungen wie Parkinson geht.

      Insgesamt besteht damit die Anforderung an Psychotherapeuten, in Anbetracht der Komplexität der psychischen Symptomatik und der gesamten Lebenssituation von Patientinnen über eine große Palette von therapeutischen Vorgehensweisen zu verfügen (vgl. Knight 2003).

      3.3 Sind alte Patienten »schwierige Patienten« – wie attraktiv ist es, mit alten und sehr alten Patienten psychotherapeutisch zu arbeiten?

      Die bisherigen Ausführungen scheinen den Eindruck nahezulegen, dass es sich beim psychotherapeutischen Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen um ein interessantes und abwechslungsreiches Forschungs- und Praxisfeld handelt. Tatsächlich jedoch betrachten viele Psychotherapeutinnen diese in ihrer Arbeit als eine eher schwierige, unattraktive, ja sogar »dubiose« Patientinnengruppe (vgl. Bodner et al. 2018). Ihrer gegenüber jüngeren Personen geringer ausfallenden Behandlungsbereitschaft liegt wahrscheinlich ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen zugrunde:

      • Kulturell internalisierte, einseitig negative Vorstellungen über das Alter (geistiger Abbau, Unselbstständigkeit, Rigidität…) gehen bei Psychotherapeuten mit negativen Erwartungen und der Antizipation, geringere Therapieerfolge zu erzielen, einher (image Kap. 1)

      • Die meisten Psychotherapeutinnen verfügen über eine geringe oder sogar sehr geringe gerontopsychologische Qualifikation in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung. Dies führt zu mangelndem Zutrauen in die eigene Behandlungskompetenz der Patientengruppe (image Kap. 5.1).

      • Aufgrund fehlender gesellschaftlicher Opportunitätsstrukturen in den Bereichen Arbeit, Bildung und Freizeit haben jüngere Menschen wenig oder keine intergenerationellen Kontakte zu älteren Menschen außerhalb der eigenen Familie (Riley und Riley 1994). Daher haben Therapeuten in der Regel vergleichsweise wenig soziale Erfahrungen mit älteren Menschen. Damit geht eine größere soziale Kontakthemmung und stärkere Orientierung an intergenerationellen Beziehungsnormen einher (image Kap. 6.4).

      • Damit verbunden ist häufig ein Unbehagen oder mangelndes Verständnis in Bezug auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen und unterschiedliche Entwicklungsphasen älterer Menschen (image Kap. 6.5).

      • Alter löst nach der Mortalitäts-Salienz-Theorie (Martens et al. 2005) aufgrund seiner Assoziation mit Tod und Vergänglichkeit schnell Ängste vor dem eigenen Altern und dem von nahestehenden Menschen aus.

      • Äußerlich attraktivere (junge) Patientinnen und/oder Patienten mit innerhalb der eigenen Berufsgruppe »angesagteren« Störungsbildern wie Trauma und Borderline bieten Psychotherapeuten mehr Möglichkeiten der eigenen narzisstischen Aufwertung.

      Einschätzungen älterer Patientinnen als »schwierig« liegen demnach maßgeblich auch eigene, durch sowohl individuell-biografische als auch gesellschaftliche Bedingungen geprägte Projektionen von Psychotherapeuten zugrunde. Diesen – keineswegs immer bewusst wahrgenommenen – negativen Einstellungen gegenüber Psychotherapie im Alter stehen folgende Argumente entgegen:

      • In einer demografisch stetig wachsenden »Gesellschaft des längeren Lebens« wird der Bedarf an Psychotherapeutinnen, die ältere Patienten behandeln, weiter zunehmen. Die Babyboomer-Generation, die in Kürze das Rentenalter erreicht, wird diesen Trend insofern verstärken, als dass sie aufgrund ihrer besonderen Sozialisation und ihrer eigenen (vielmals positiven) Erfahrungen mit Psychotherapie eine solche auch weiterhin stärker nachfragen wird (Peters und Lindner 2019).

      • Psychotherapie im Alter ist ein Forschungs- und Versorgungsfeld, das sich aktuell dynamisch entwickelt und in dem viele neue Erkenntnisse gesammelt werden (Knight 1986) (image Kap. 2.4). Hinzu kommt, dass sich die Lebensphase Alter selbst sehr stark kulturell weiterentwickelt, etwa im Zuge technischer Innovationen (Stichwort »ambient assisted living«) (Wahl et al. 2012).

      • In der Entwicklung psychotherapeutischer Ansätze für ältere Menschen hat es beträchtliche Fortschritte gegeben: Es liegen unter anderem mittlerweile gut evaluierte Behandlungsansätze vor, die Psychotherapeuten handlungsleitendes Wissen vermitteln (image Kap. 8).

      • Es bieten sich Chancen der interprofessionellen Zusammenarbeit in der Versorgung im Sinne des biopsychosozialen Modells, weil ältere Patienten in der Regel umfassender versorgt werden (müssen) (image Kap. 6.6.2).

      • Der berufliche Kontakt zu alten Patientinnen bietet die bereichernde Möglichkeit, zeitgeschichtliches Wissen unmittelbar zu erfahren, da ältere Menschen Zeitzeugen einer Vergangenheit sind, die Psychotherapeuten in der Regel nicht selbst erlebt haben (image Kap. 6.5).

      • Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten Menschen eröffnet die Chance, sich mit einer Lebensphase zu beschäftigen, die einem in der Zukunft selbst bevorsteht (image Kap. 6.5). Dies kann zu einer aktiven Planung des eigenen Alterns anregen.

      • Die Tätigkeit mit sehr alten, multimorbiden Patientinnen ermöglicht häufig sinnstiftende Einblicke in existenzielle Fragen und Grenzsituationen des menschlichen Lebens (Conditio humana) im Zusammenhang mit Leiden, Tod und Vergänglichkeit.

      • Ältere Patienten verfügen aufgrund ihrer längeren Lebensdauer im Idealfall über mehr Erfahrungswissen, das in der Therapie nutzbar gemacht werden kann. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Bewältigungswissen im Zusammenhang mit früheren Krankheitsphasen für den Umgang mit einer aktuellen Krisensituation genutzt werden kann (image Kap.