Carrie Turansky

Weiter als der Ozean


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verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf mit einem schweren Seufzen darauf.

      Garth öffnete den Küchenschrank und ließ seinen Blick über die leeren Fächer schweifen. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf und wandte sich dann an Katie. „Ich werde mit Mr Davies sprechen. Vielleicht zahlt er mir einen Vorschuss.“

      Katie nickte und hoffte, der Metzger würde sich darauf einlassen. Garth arbeitete unter der Woche nach der Schule und samstags den ganzen Tag als Lieferjunge für Mr Davies. Der Mann war für seinen Geiz bekannt. Garth musste immer bis zum Monatsende auf seinen Lohn warten. Er verdiente nicht viel, aber seit Mama krank war, bekam sie überhaupt kein Geld mehr, und sie waren auf Garths Lohn angewiesen.

      Mrs Graham trat in die Küche und faltete die Hände. „Garth, lauf bitte zu uns nach Hause und sag meinem Mann, dass er mit dem Wagen kommen soll. Wir müssen eure Mama ins Krankenhaus bringen.“

      Katies Herz zog sich zusammen. „Mama will nicht ins Krankenhaus. Wir können sie doch bestimmt auch hier versorgen.“

      Mrs Grahams Miene wurde weicher, und ihr Blick wanderte von Katie zu Garth. „Eure Mama braucht einen Arzt und ausgebildete Krankenschwestern, die sich um sie kümmern. Sonst befürchte ich …“ Sie sprach nicht weiter und warf einen schmerzerfüllten Blick auf Grace.

      Katie legte die Hand auf das Kreuz, das sie an einer Kette unter ihrem Kleid trug, und bemühte sich, ihre Angst zu bändigen. Sie wusste, dass Mama ernsthaft krank war. Aber sie konnten sich keinen Arzt leisten. Wovon sollten sie eine Krankenhausrechnung zahlen?

      Aber blieb ihnen eine andere Wahl? Da Papa tot war und Laura so weit weg arbeitete, mussten sie die Entscheidung treffen.

      Garth nahm seine Kappe und Weste vom Haken an der Wand und trat wortlos zur Tür. Er würde tun, was Mrs Graham gesagt hatte, und ihren Mann holen.

      Katie schenkte eine Tasse Tee für Mrs Graham ein und brachte sie ihr. Dann setzte sie sich mit Grace neben Mamas Bett. Ängstliche Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, während sie alle warteten, bis Garth mit Mr Graham zurückkam. Mamas Gesicht war noch mehr gerötet, und sie warf den Kopf hin und her und murmelte Worte, die Katie nicht verstehen konnte.

      Schließlich stapften Schritte die Treppe herauf. Garth trat ein, gefolgt von Mr Graham und dessen Sohn Jacob. Sie schoben schnell eine schwere Decke unter Mama, um sie als Trage zu benutzen. Mr Graham nahm die beiden Ecken neben Mamas Kopf, und Mrs Graham und Jacob packten je eine der anderen Ecken.

      Katie wollte ihre Weste anziehen. „Wir kommen mit.“

      „Nein, Liebes. Es ist spät. Ihr bleibt besser hier.“ Mrs Graham warf erneut einen vielsagenden Blick auf Grace. Ihre Botschaft war unmissverständlich – Grace war zu jung für das ganze Leid im Krankenhaus. „Wenn wir mehr wissen, geben wir euch Bescheid.“

      Katie schaute Garth an, der ernst nickte. Als die Grahams losmarschierten, griff eine kalte Angst nach ihrem Herzen. Grace brach in Tränen aus. Sie klammerte sich an Katies Bein und vergrub das Gesicht in Katies Rock.

      Katie strich ihrer Schwester über den Rücken. „Du brauchst nicht zu weinen. Alles wird wieder gut werden.“ Aber ihr liefen selbst heiße Tränen übers Gesicht.

      Garth stand neben Katie, seine Kappe in der Hand, seine Wangen gerötet und die Kiefer zusammengepresst. Er vergoss keine Tränen, aber seine Augen glänzten feucht, als die Grahams Mama zur Tür hinaus- und die Treppe hinabtrugen.

      „Was sollen wir jetzt machen?“ Katies Kehle war so zugeschnürt, dass sie kaum sprechen konnte.

      Garth schloss die Tür und starrte ein paar Sekunden auf den Boden. Schließlich hob er den Kopf. „Wir müssen Laura schreiben.“

      Katies Gedanken wanderten zu ihrer älteren Schwester. Laura war einundzwanzig und arbeitete als Kammerzofe für eine wohlhabende Familie auf einem großen Anwesen in der Nähe von St. Albans, ungefähr eine Zugstunde nördlich von London. „Glaubst du, sie wird kommen?“

      „Keine Ahnung.“

      „Aber was ist, wenn sie deshalb ihre Stelle verliert?“

      „Sie werfen sie doch nicht hinaus, nur weil sie kommt, um ihrer Familie zu helfen, oder?“

      Katie rieb ihre müden Augen. Sie brauchten das Geld, das ihnen Laura jeden Monat schickte, um die Miete für ihre Wohnung zu bezahlen. Garth hatte recht. Sie mussten ihrer Schwester schreiben, was mit Mama los war. Sie seufzte. „Es ist schon sehr spät. Wir können Laura morgen schreiben.“

      Garth nickte. Dann steckte er die Hand in seine Westentasche, zog ein kleines, rundes, in Papier gewickeltes Päckchen heraus und hielt es Grace hin.

      Graces Tränen versiegten, und sie bekam einen Schluckauf. „Was ist das?“

      „Pack es aus und schau nach.“

      Grace wischte mit dem Ärmel über ihre Nase und wickelte das Papier auf. Ein Rosinenbrötchen kam darin zum Vorschein. Ihre Augen strahlten auf. „Woher hast du das, Garth?“

      „Jacob hat es mir gegeben, während wir warteten, bis sein Vater mit dem Wagen kam.“ Er nahm ein zweites Brötchen aus seiner Tasche und hielt es Katie hin.

      Ihr Magen zog sich zusammen, aber sie schob es zurück. „Iss es selbst.“

      „Ich habe schon eines gegessen. Das hier ist für dich.“

      Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte sie. Sie zog das Brötchen aus dem Papier und nahm einen kleinen Bissen. Das süße, buttrige Gebäck war köstlich. „Es schmeckt köstlich.“

      Garth verzog den Mund zu einem Lächeln. „Jacob ist sehr nett, genauso nett wie seine Mutter.“

      Katie nickte und nahm einen weiteren kleinen Bissen, damit sie so lange wie möglich etwas von dem Brötchen hatte.

      Garth warf einen stirnrunzelnden Blick auf die kleine Uhr im Regal. „Es ist schon spät. Wir sollten versuchen zu schlafen.“

      Katie blickte aus dem Fenster. „Du hast recht.“

      Der Himmel war dunkel bis auf den fahlen Mondschein, der durch die Wolken drang. Sie gähnte und aß das Brötchen auf. Ihre Augen brannten, Nacken und Schultern schmerzten. Sie würde sich zu ihrer Schwester in ihr gemeinsames Bett legen, aber sie bezweifelte, dass sie einschlafen konnte. Heute Abend gingen ihr zu viele sorgenvolle Gedanken durch den Kopf.

      Wie lange würde Mama im Krankenhaus bleiben? Was würde der Krankenhausaufenthalt kosten? Wie sollten sie ohne Mama zurechtkommen? Was wäre, wenn sie nicht mehr gesund wurde? Müssten sie sich dann als Waisen ohne ein Zuhause allein durchs Leben schlagen? Sie hatte Kinder gesehen, die auf den Straßen bettelten, und andere, die keine andere Überlebenschance sahen, als zu stehlen.

      Sie schloss die Augen und versuchte, diese schmerzhaften Bilder auszusperren. Das würde ihnen nie passieren. Morgen früh wäre alles wieder gut. Mama würde gesund werden, sie würde heimkommen, und sie wären alle wieder glücklich zusammen.

      

      Katie schaute durch das Fenster, an dem der Regen hinablief, und suchte unten die Straße ab. Aber sie konnte Garth nirgends finden. Sie warf einen Blick auf die kleine Uhr im Regal über der Spüle und biss sich auf die Lippe.

      Wo konnte er sein? Als er am Morgen die Wohnung verlassen hatte, hatte er ihr versichert, dass er nach Hause käme, sobald er die Waren für Mr Davies ausgeliefert hatte. Er war samstags normalerweise um eins, spätestens um zwei Uhr fertig, aber jetzt war es schon fast drei. Wo blieb er so lange? Hatte er Mr Davies überreden können, ihm einen Vorschuss zu zahlen, und war dann auf dem Rückweg gleich einkaufen gegangen? Sie atmete tief aus. Ja, das musste der Grund sein.

      Sie ging zum Tisch hinüber, an dem ihre kleine Schwester saß und auf der Rückseite eines alten verknitterten Prospekts etwas malte. Grace summte, während sie mit ihrem Bild beschäftigt war, und schien in ihrer Fantasiewelt versunken zu sein. Katie legte Grace die Hand auf die Schulter, eine tröstliche Geste, die ebenso ihr selbst galt wie ihrer Schwester.

      Grace