bekommen bald unseren Lohn. Dann haben wir genug Geld, um Lebensmittel zu kaufen, bis Mama zurückkommt.“
„Tut mir leid, Junge. Ihr müsst mitkommen.“ Der Polizist ließ sich nicht umstimmen.
„Und wenn wir uns weigern?“ Katie legte den Arm um Graces Schultern.
Der Polizist wurde nun energisch. „Dann muss ich deinen Bruder verhaften, weil er ein Brot gestohlen hat, und ihn ins Gefängnis sperren.“
Sie schaute Garth an und versuchte zu erraten, was er dachte, aber dieses Mal konnte sie seine Gedanken nicht lesen. Vielleicht war er genauso verwirrt und verängstigt wie sie.
Der Polizist verschränkte seine kräftigen Arme vor sich. „Ihr habt die Wahl: Entweder ihr kommt jetzt alle drei mit oder ich stecke den Jungen ins Gefängnis und komme dann zurück und bringe euch Mädchen ins Kinderheim.“
Garth warf einen angsterfüllten Blick auf Katie. Resignation breitete sich in seinem Gesicht aus. „Wir wollen zusammenbleiben.“
„Das ist nur vorübergehend, bis eure Mama wieder gesund ist.“ Mrs Graham zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Im Heim bekommt ihr genug zu essen und seid sicher untergebracht. Wenn eure Mama wieder gesund ist, kann sie euch nach Hause holen.“
Katies Magen zog sich zusammen, ihr wurde richtig übel. Das klang alles vernünftig, aber was war, wenn Mama nicht wieder gesund wurde? Was würde dann passieren?
Laura McAlister nahm Mrs Frasiers weinrotes Seidenkleid vom Bügelbrett und hielt es hoch, um sich zu vergewissern, dass sie jede Falte ausgebügelt hatte. Sonnenlicht fiel durch das Fenster im Wäscheraum und ließ die schwarzen Perlen am Mieder funkeln. Sie drehte das Kleid langsam und betrachtete den Rücken und die Seiten. Mit ihrer Arbeit zufrieden, schob sie einen Kleiderbügel in den Ausschnitt des Kleides, legte den langen Rock über ihren Arm und trat auf den Flur hinaus.
Es war schon fast Mittag und Zeit für das Mittagessen der Dienstboten. Sie wollte das Kleid nach oben bringen und ins Ankleidezimmer ihrer Herrin hängen, um sich dann zu den anderen Dienstboten im Aufenthaltsraum zu gesellen. Vielleicht war die Morgenpost schon gekommen, und sie würde einen Brief von Mama vorfinden, auf den sie sehnsüchtig wartete. Normalerweise bekam sie einmal oder zweimal in der Woche Post von ihrer Familie, aber aus irgendeinem Grund hatte sie seit fast zwei Wochen nichts mehr von ihnen gehört.
Ihre Besorgnis wuchs, und ihr wurde eng ums Herz. Wenn sie nicht bald etwas hörte, würde sie darum bitten, einen Tag frei zu bekommen, damit sie nach London fahren und ihre Familie besuchen könnte.
Es war schmerzhaft und beunruhigend, von ihnen getrennt zu sein, aber nach dem Tod ihres Vaters hatte Laura Arbeit finden müssen, um ihre Familie finanziell unterstützen zu können. Durch eine Freundin hatte sie von den Harringtons gehört, einer wohlhabenden Familie in London, die eine neue Zofe gesucht hatte. Sie hatte sich für die Stelle beworben und war noch am selben Tag eingestellt worden.
Zuerst war alles gut gelaufen, aber dann war der Neffe der Harringtons eingezogen, Simon. Er hatte ihr mit seinen anzüglichen Bemerkungen das Leben schwer gemacht. Leider hatte er es dabei nicht belassen, sondern hatte ihr auch auf den Gängen nachgestellt und angefangen, ihr auf der Hintertreppe aufzulauern. Das letzte Mal war sie ihm nur mit knapper Not und einem zerrissenen Kleid entkommen. Sie hatte so große Angst gehabt, dass sie noch am selben Nachmittag das Haus verlassen hatte.
Mit einem Schauer verdrängte Laura die hässlichen Erinnerungen und stieg die Dienstbotentreppe hinauf. Es war ein Wunder, dass sie nur eine Woche später eine neue Stelle bei der Familie Frasier bekommen hatte. Mrs Ellis, die Haushälterin, und Mr Sterling, der Butler, behielten das Personal streng im Auge und erlaubten keine persönlichen Beziehungen unter den Dienstboten.
Sie fühlte sich auf Bolton sicher und war für ihre neue Stelle dankbar.
Als sie im Erdgeschoss ankam, stand ihre Freundin Millie, die als Hausmädchen hier arbeitete, an der grünen Abtrenntür und spähte in die Eingangshalle.
„Was machst du denn hier?“, flüsterte Laura.
Ihre Freundin zuckte zusammen und fuhr herum. „Laura! Hast du mich erschreckt!“
„Entschuldige. Was ist denn los?“
Millie grinste, und Grübchen traten auf ihre rosigen Wangen. „Komm und schau selbst.“
Laura trat neben ihre Freundin und lehnte sich an die Tür. Sie spähte durch den Spalt, und ihr stockte der Atem. Ein großer, attraktiver junger Mann stand am Fuß der Treppe und unterhielt sich mit Mrs Frasier. Er trug einen modischen grauen Anzug, der für seine schlanke Figur maßgeschneidert war. Seine Krawatte mit blauem Paisleymuster stach von seinem gestärkten weißen Hemd und seinem gebräunten Gesicht ab. Aus dieser Entfernung konnte sie seine Augenfarbe nicht erkennen, aber er hatte hellbraunes Haar und ein markantes Kinn. Kleine Fältchen bildeten sich in seinen Mund- und Augenwinkeln, als er Mrs Frasier lächelnd begrüßte.
Laura zog den Kopf zurück und flüsterte: „Wer ist das?“
„Andrew Frasier, Mr und Mrs Frasiers Sohn.“
Lauras Magen zog sich zusammen. „Wird er hier wohnen?“
„Hoffentlich. Sieht er nicht einfach umwerfend aus?“ Millie beugte sich näher zu ihr herüber und lächelte verträumt. „Er wird eines Tages der Herr von Bolton sein.“
Laura biss sich auf die Lippe und spähte erneut durch den Spalt. Mrs Frasier hatte erwähnt, dass sie eine verheiratete Tochter und einen Sohn habe. Aber sie hatte gesagt, der Sohn lebe in London und sie bekomme ihn seltener zu Gesicht, als ihr lieb sei. „Was weißt du über ihn?“, flüsterte Laura.
„Er ist vierundzwanzig. Und er wird mal Anwalt werden. Ist gerade noch in Ausbildung.“
Lauras Schultern verspannten sich. Wie lange würde er auf Bolton bleiben? War er ein anständiger Mann? Oder war er gefährlich, so wie Simon Harrington? Sie betrachtete forschend Andrew Frasiers Gesicht und versuchte, hinter sein Lächeln zu blicken. Aber es war unmöglich, seinen wahren Charakter zu erkennen.
Sie musste sehr vorsichtig sein und ihm sicherheitshalber lieber aus dem Weg gehen.
Andrew reichte dem Butler seinen Hut und Mantel. „Es ist so schön, dich zu sehen, Mutter.“ Seine Stimme drang gut vernehmlich an ihre Ohren.
Mrs Frasier strahlte. „Was für eine freudige Überraschung! Ich habe dich erst nächste Woche erwartet.“
„Unsere Geschäfte waren früher erledigt als erwartet, und als wir hörten, dass in zwei Tagen ein Schiff ausläuft, beschlossen wir aufzubrechen, damit wir rechtzeitig zu Ostern zu Hause wären.“
„Das freut mich sehr. Wir haben dich so vermisst, Andrew.“
„Ihr habt mir auch gefehlt.“
Mrs Frasier hakte sich bei ihm unter. Er tätschelte ihre Hand, und gemeinsam schlenderten sie in Richtung Salon.
Laura wandte sich an Millie. „Das klingt, als wäre er verreist gewesen.“
Millie nickte. „Er war zwei Monate in Italien.“
Laura bekam große Augen. „Italien? Oh, meine Güte.“
„Ja. Klingt das nicht aufregend?“
„Was hat er dort gemacht?“
„Er hat einen anderen Anwalt bei dessen Geschäften begleitet.“ Millie kniff die Augen zusammen und tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Ich glaube, er heißt Mr Dowd. Er ist derjenige, der Mr Frasier zum Anwalt ausbildet.“
„Warum nimmt Andrew Frasier eine Arbeitsstelle an, wenn er der künftige Erbe von Bolton ist?“
Millie zuckte die Schultern. „Sein Vater könnte noch zwanzig bis dreißig Jahre leben. Vermutlich will er etwas Sinnvolles mit seinem Leben anfangen.“
„Trotzdem klingt es sonderbar, dass jemand in seiner Position nach London geht und