Carrie Turansky

Weiter als der Ozean


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      „Das stimmt wahrscheinlich.“ Laura warf einen Blick zur Tür, durch die Mrs Frasier und ihr Sohn verschwunden waren. „Mich würde interessieren, ob er nur über Ostern hier ist oder ob er plant, länger zu bleiben.“

      Millie grinste, und ein verträumter Blick trat in ihre Augen. „Ich hoffe, er bleibt sehr lange hier.“

      Ein Schauer lief über Lauras Rücken. Falls Andrew Frasier tatsächlich plante, auch nach Ostern auf Bolton zu bleiben, müsste sie sich womöglich bald eine neue Stelle suchen.

      „Was machen Sie hier?!“ Mr Sterling kam die Treppe herunter und trat mit einem tadelnden Stirnrunzeln zu ihnen.

      Laura hielt die Luft an und richtete sich auf. „Nichts, Sir.“

      Er kniff streng die Augen zusammen. „Die Dienstboten auf Bolton gehen ihren Pflichten nach und belauschen nicht die Familie. Ist das klar?“

      „Ja, Sir“, antworteten Millie und Laura wie aus einem Munde.

      „Gehen Sie an Ihre Arbeit. Ich will Sie nie wieder untätig auf der Dienstbotentreppe herumlungern oder durch einen Türspalt spähen sehen!“

      „Ja, Sir.“ Laura verstärkte den Griff um den Kleiderbügel und das Kleid und stieg die Treppe hinauf.

      Millie holte sie rasch ein und schmunzelte leise: „Mr Sterling ist so ein alter Dudelsack.“

      „Lass ihn das bloß nicht hören.“ Mr Sterling und Mrs Ellis standen allen Dienstboten im Haus vor. Er konnte ihr jederzeit kündigen und sie fortschicken, wenn er mit ihrer Arbeit oder mit ihrem Verhalten nicht zufrieden war. Es war besser, den Mund zu halten, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und ihre Vorgesetzten mit Respekt zu behandeln.

      „Ob Mr Andrew Frasier wohl eine Freundin hat?“

      „Millie, das geht uns nichts an. Es würde ihm bestimmt nicht gefallen, wenn zwei Zimmermädchen Spekulationen über seine persönlichen Angelegenheiten anstellen.“

      „Vermutlich nicht“, pflichtete ihr Millie mit einem schelmischen Grinsen bei. „Aber ein wenig Träumen wird wohl noch erlaubt sein.“

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      „Heute Morgen ist ein Brief für Sie angekommen.“ Mrs Ellis hielt Laura den dünnen hellgrauen Umschlag hin. Sie schaute Laura durch die Drahtbrille auf ihrer Nasenspitze an. Ihr silbern durchzogenes Haar war in der Mitte gescheitelt und zu einem kleinen strengen Knoten zurückgezogen.

      „Danke, Madam.“ Laura nahm den Brief und steckte ihn in ihre Schürzentasche. Sie trank schnell ihren Tee, stand vom Tisch auf und huschte aus dem Aufenthaltsraum. Erneut schob sie die Hand in ihre Schürzentasche, legte die Finger um den Brief und schritt durch den Gang im Untergeschoss. In der Hoffnung auf ein wenig Sonnenschein und ein paar ungestörte Minuten, in denen sie den Brief lesen konnte, schob sie die Tür auf und trat ins Freie.

      Der Duft von frisch gemähtem Gras und Frühlingsblumen begrüßte sie, als sie auf die Terrasse hinter dem Haus trat. Sie schlenderte über den Kiesweg um die Seite des Hauses herum und betrat den Garten, der von einer Stechpalmenhecke umgeben war. Gelbe und weiße Narzissen mit silbergrünen Blättern nickten im leichten Frühlingswind mit ihren Köpfen. Rosa, rote und gelbe Tulpen säumten die Blumenbeete mit dem federförmigen grünen Farn. Der blühende Pflaumenbaum sah aus wie eine rosa Wolke über dem Weg.

      Laura setzte sich im Schatten einer Stechpalme auf die Steinbank und riss den Umschlag vorsichtig auf. Sie zog den Brief heraus und war überrascht. Normalerweise schrieben ihr Mama und Katie, aber diese Handschrift war ihr unbekannt. Sie drehte den Brief um und entdeckte am Ende Mrs Grahams Unterschrift. Ihre Schultern verspannten sich.

      Liebe Laura,

      ich muss Dir leider mitteilen, dass es Deiner Mutter in den letzten Wochen nicht gut ging und sie sehr krank ist. Katie und Garth haben ihr Möglichstes getan, um sich um sie zu kümmern, und ich habe sie auch fast jeden Tag besucht. Aber sie bekam hohes Fieber und wurde immer schwächer. Deshalb haben mein Mann und ich sie am Freitagabend ins St.-Josef-Krankenhaus gebracht.

      Lauras Herz zog sich zusammen. Sie starrte entsetzt auf den Brief. Wie hatte sie jeden Tag ihren Pflichten nachgehen können, ohne zu ahnen, dass es ihrer lieben Mutter so schlecht ging? Tränen traten ihr in die Augen, und sie musste einige Male blinzeln, bevor sie weiterlesen konnte.

      Die Schwestern dort versorgen sie gut, und die Ärzte hoffen, dass sie sich von ihrer Lungenentzündung erholt, aber das ist nicht sicher. Ich wollte Dich für den Fall vorbereiten, dass das Schlimmste eintritt. Ich werde sie besuchen, so oft ich kann, und ich verspreche, Dir zu schreiben, wenn sich etwas an der Situation ändert.

      Der nächste Absatz war nicht weniger beunruhigend. Mrs Graham teilte ihr mit, dass ihr Bruder beim Diebstahl erwischt worden war und dass ihre drei Geschwister in ein Kinderheim gebracht worden waren.

      Ich hoffe, Du kommst nach London, wenn Du kannst. Es würde Deine Mutter sicher aufmuntern, wenn sie Dich sieht und weiß, dass Du alles tust, um Dich um Deine Geschwister zu kümmern und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Bitte schreibe mir, ob Du kommen kannst. Ich werde in meinen Gebeten an Dich und Deine Familie denken.

      Herzlich

      Ruby Graham

      Laura drückte den Brief ans Herz und schluckte. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatten, wurden sie jetzt erneut mit einer schmerzhaften Situation konfrontiert. Ihre Geschwister hatten versucht, sich um sich selbst und um Mama zu kümmern, aber sie waren damit überfordert gewesen. Außerdem hatten sie Hunger gelitten und nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollten. Ihr armer Bruder war so verzweifelt gewesen, dass er Brot gestohlen hatte. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.

      Sie schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Katie, Grace und Garth mussten zutiefst verängstigt sein. In welches Heim hatte man sie gebracht? Waren sie alle im selben Haus oder hatte man sie getrennt? Viele Kinderheime nahmen nur Jungen oder nur Mädchen auf.

      Sie musste nach London. Ihre Familie brauchte sie. Würde Mrs Frasier ihr das erlauben oder würde sie ihr kündigen und sich eine neue Kammerzofe suchen? Wenn Laura ihre Stelle verlor, hätte sie kein Geld, um ihrer Familie zu helfen. Vielleicht könnte sie in London eine neue Stelle finden, aber wie sollte sie sich um ihre Geschwister kümmern, wenn sie den ganzen Tag arbeitete?

      Ein ersticktes Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um nicht laut zu weinen. Sie sollte für ihre Mutter und für ihre Geschwister beten, aber sie konnte ihre aufgewühlten Gedanken nicht in Worte fassen. Sie beugte den Kopf und betete um Trost. Aber der Himmel erschien ihr fern und schweigsam.

      Ein leichter Wind fuhr durch die Pflaumenblüten über ihr, und einige rosa Blütenblätter regneten auf sie herab. Sie hielt sich die Augen zu und ließ ihren Tränen freien Lauf.

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      Andrew faltete die Hände auf dem Rücken und schlenderte mit seiner Mutter über den smaragdgrünen Rasen im alten Rosengarten. Es war noch zu früh für die Rosenblüte, aber er sah die neuen Triebe, die ankündigten, dass sie sich in wenigen Wochen in ihrer ganzen Pracht zeigen würden. Um diese Jahreszeit leuchteten am Rand der Beete die bunten Tulpen, Herzblumen, Hyazinthen und Vergissmeinnicht.

      Es tat gut, zu Hause zu sein und durch die Privatgärten seiner Familie zu spazieren. Als Junge hatte er hier draußen viele Stunden verbracht und war Mr Harding, dem mürrischen alten Gärtner mit dem weichen Herzen, überallhin gefolgt. Von ihm hatte er gelernt, die Beete zu bearbeiten, mehrjährige Blumen umzupflanzen und die Kletterrosen zu schneiden. Neben der Arbeit im Garten hatte Andrew Kaninchen gejagt und zugesehen, wie Rotkehlchen ihre Nester bauten und ihre Jungen fütterten.

      Bei schönem Wetter war er gern im Freien gewesen und bei Mr Harding in die Schule gegangen. Und manchmal auch, wenn das Wetter nicht so schön gewesen war. Er hatte jene Stunden mit dem alten Mann genossen und die Geheimnisse des Gartens in sich aufgesogen. So hatte er nicht im Haus und in der Nähe seines Vaters sein müssen, der ein hitziges Temperament hatte und nur