Dietrich Schulze-Marmeling

Lew Jaschin


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gebremst. Ligen besaßen zunächst nur lokalen Charakter, erst 1936 wurde eine nationale Liga gegründet. Erste Meister waren Dynamo und der Lokalrivale Spartak. Die Dynamik des sowjetischen Fußballs wurde nun vom Antagonismus zwischen diesen beiden Klubs angetrieben. Geheimdienstchef und Dynamo-Boss Lawrenti Beria versuchte dabei, das populärere Spartak auch mithilfe von Repression vom Thron zu stoßen.

       Ende der 1930er / Anfang der 1940er sorgte Dynamo-Trainer Boris Arkadiew für eine taktische Modernisierung des sowjetischen Fußballs. Im September 1945 war Dynamo das erste sowjetische Team, das auf westeuropäischem Boden spielte. Eine Tour durch Großbritannien hinterließ auch im Westen nachhaltigen Eindruck. Star der Dynamo-Expedition war ihr Torhüter Alexander Khomich, später ein Mentor des jungen Lew Jaschin.

       Britische Anfänge

      Auch in Russland waren es Briten, die den Fußball ins Land brachten. In den 1860ern traten britische Seeleute im Hafen von Odessa vor den Ball. Zum Zentrum fußballerischer Aktivitäten avancierte bald St. Petersburg, wo das Fußballteam des 1888 gegründeten „Sankt Petersburger Kreises der Amateursportler“ regelmäßig gegen die Besatzungen englischer Schiffe antrat.

      1890 wurde in Moskau eine Liga der Fabrikvereine gegründet, doch die erste richtige Fußballliga Russlands konnte St. Petersburg für sich reklamieren. 1901 wurde hier die St. Petersburg Football League aus der Taufe gehoben, die zunächst von Teams dominiert wurde, die Engländer und andere ausländische Bürger gegründet hatten. 1908 konnte erstmals ein russisches Team den Titel gewinnen. Ein Jahr später verließen einige starke Ausländerteams die Football League und gründeten eine eigene Liga, die „Russische Gesellschaft der Amateurfußballer“. Diese spielte ab 1910 um einen Pokal, den der britische Botschafter Alan Nicholson gestiftet hatte. 1911 kam es zur Wiedervereinigung der beiden Ligen, aber die Teams der Ausländer hatten sportlich den Anschluss verloren und zogen sich bald ganz vom Spielbetrieb zurück. Der russisch-englische Spielverkehr, der für die damalige Zeit viele Zuschauer mobilisierte, war damit beendet.

      1911 startete auch eine gesamtrussische Liga, in der aber nur Stadtauswahlmannschaften spielten und die nur kurzlebig war. 1913 bekam auch Moskau eine eigene Stadtliga, die von 25 Klubs gebildet wurde. In der St. Petersburger Liga spielten zu dieser Zeit 23 Mannschaften.

       Erste Länderspiele

      1912 war mit dem Rossijski Fotbolny Sojus (RFS) ein nationaler Dachverband gegründet worden. Ebenfalls 1912 bestritt Russland beim olympischen Fußballturnier in Stockholm seine ersten Länderspiele. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Gegen Finnland, das damals noch zum russischen Kaiserreich gehörte, verlor man am 30. Juni 1912 mit 1:2. Gegen Deutschland kassierte man einen Tag später eine 0:16-Klatsche, bei der der deutsche Stürmer Gottfried Fuchs mit zehn Toren einen noch heute gültigen Rekord aufstellte. Allerdings bestand die russische Elf vornehmlich aus Leichtathleten. Der Ball war nicht ihr Freund. Außerdem hatten beide Teams am Vorabend gemeinsam gesoffen – die Russen offensichtlich etwas mehr als die Deutschen.

      Anschließend wurde es erst einmal nicht besser. Im Juli 1912 unterlag Russland Ungarn in Moskau mit 0:9 und 0:12. Allerdings gehörten die Ungarn bereits zu den besten Teams auf dem Kontinent und hatten zuvor auch Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich geschlagen. In Imre Schlosser und Vilmos Kertesz besaßen sie bereits Starspieler von internationalem Ruf, die gegen die Russen 13 der 21 Tore schossen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielte die russische Nationalelf noch viermal. Einer 1:4-Heimniederlage im Mai 1913 gegen Schweden folgten drei Remis. Von Norwegen trennte man sich in Moskau und Oslo jeweils 1:1, von Schweden in Stockholm 2:2.

       Revolution kontra Fußball

      Anschließend ruhte der Spielbetrieb der Nationalelf für gut zehn Jahre, bedingt durch den Ersten Weltkrieg, die Revolution und den anschließenden Bürgerkrieg.

      Im Februar 1917 mündete eine Demonstrations- und Streikwelle in der Entmachtung der zaristischen Führung Russlands. Auf die Februarrevolution folgten die von Lenin initiierte Oktoberrevolution der Bolschewiki und die Ausrufung der „Russischen Sowjetrepublik“. Der folgende Bürgerkrieg, den Lenins kommunistische Bolschewiken und ihre Rote Armee gegen Konservative, Reaktionäre, Demokraten, gemäßigte Nationalisten und die Weiße Armee ausfochten, zog sich bis 1921 hin. Robert Edelmann, Professor für russische Geschichte und Geschichte des Sports an der Universität of California in San Diego: „Der Bürgerkrieg war begleitet von Hunger, Seuchen, Chaos und Entvölkerung der Städte. Das spielerische Vergnügen eines so spontanen Spiels wie Fußball passte schlecht zu den Erfordernissen des bedrohten neuen Regimes. Die bestehenden Vereine und anderen Institutionen, die sich mit Fußball befasst hatten, wurden alleine gelassen. (…) Die Ausländerkolonie verflüchtigte sich, was die Verbindung zum Mutterland des Fußballs, Großbritannien, unterbrach.“

      Der Bürgerkrieg endete mit einem Sieg der Bolschewiken. Am 31. Dezember 1922 wurden große Teile des auseinandergefallenen Russischen Reiches als Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz UdSSR, wiedervereint.

      Das kommunistische Regime hatte den Charakter einer „Entwicklungsdiktatur“ und betrieb nun eine zentral gesteuerte nachholende Industrialisierung des Landes. Innerhalb von 20 Jahren wollte man die vielerorts noch mittelalterlichen, feudalen Produktionsverhältnisse beseitigen und das rückständige Land in eine industrielle Großmacht verwandeln.

      Am 21. Januar 1924 starb Revolutionsführer Lenin. Kurz vor seinem Tod hatte er vor Stalin gewarnt: „Genosse Stalin hat dadurch, dass er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig Gebrauch zu machen. (…) Stalin ist zu grob.“ Doch Stalin gewann den Kampf um Lenins Nachfolge, und an die Stelle der Diktatur einer Partei trat nun die Diktatur einer Person. 1928 begann die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die ohne Rücksicht auf Menschenleben betrieben wurde und allein in der Ukraine 3,5 Millionen Todesopfer forderte.

      Die Kommunisten standen dem Sport und dem Fußball zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Ihre Argumente waren teilweise deckungsgleich mit denen konservativer Turnideologen in Deutschland, die die englische Herkunft des Spiels und seinen mit der kapitalistischen Leistungsgesellschaft kompatiblen „übertriebenen“ Wettkampfcharakter ablehnten. Aber es gab auch wesentliche Unterschiede. Die Linken betrachteten Leibesübungen im Kontext mit Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage der Massen. Die Rechten sahen sie vor allem im Kontext mit der „Wehrhaftmachung“ des Volkes. Jim Riordan, ein 2012 verstorbener englischer Schriftsteller und Sporthistoriker, Verfasser vieler wissenschaftlicher Arbeiten zum sowjetischen Sport: „Der sportliche Wettkampf, so meinten nun viele Kommunisten, desavouiere die ‚ewigen Ideale’ der Leibesübungen. Statt den Körper umfassend zu bilden, führe er zur ungesunden Spezialisierung; er begünstige Krämergeist, Habgier und Sittenverfall, und statt die Massen zur aktiven Erholung zu führen, wie es ein sozialistisches Grundziel forderte, dränge er sie in die Rolle passiver Zuschauer.“

      Aber Fußball entwickelte sich zu einer „dermaßen attraktiven Unterhaltung, dass er in den 20er Jahren schließlich ein Bestandteil der kommerzialisierten Freizeitkultur wurde“ (Robert Edelmann). Bereits Ende der 1920er florierte ein informeller Professionalismus mit Spielertransfers und lukrativen Schaukämpfen.

       Weltfußball ohne Sowjets

      Nach der Gründung der UdSSR kam es zu heftigen Verstimmungen zwischen der FIFA und dem neuen Staat, der nicht Mitglied des Weltverbandes war. Die FIFA verbot ihren Mitgliedsländern Spiele gegen die UdSSR. Das einzige FIFA-Mitglied, das sich dem widersetzte, war die Türkei. Am 16. November 1924 empfing die sowjetische Nationalmannschaft in Moskau die Türkei zum ersten Nachkriegsländerspiel. Die Sbornaja, wie die sowjetische Nationalelf genannt wurde, gewann glatt mit 3:0.

      Zwischen der Sowjetunion und der Türkei existierten besondere Beziehungen. Im März 1921 hatte die UdSSR mit der in Ankara ansässigen nationalen türkischen Regierung ein Friedens- und Freundschaftsabkommen unterzeichnet. Es war der erste international ratifizierte Vertrag eines Staates mit der antiimperialistischen Widerstandsbewegung von Mustafa Kemal Pascha (ab 1934 Mustafa Kemal Atatürk), die am 29.