Paul Keller

Die fünf Waldstädte


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„Beatrice!“

      Da sagten wir schnell: „Guten Abend“ und gingen davon. Der Förster kam uns nach.

      „Ich sehe es ja ein, dass ihr die Dohle durchaus haben wollt,“ sagte er; „aber es würde euch nichts nützen, wenn ich sie euch schenkte, denn sie würde euch trotz ihrer beschnittenen Flügel entwischen. Wollt ihr die Dohle haben und behalten, so müsst ihr in die Judasweide abends in der Dämmerung einen Nagel einschlagen. Einer muss den Nagel halten, der andere muss hämmern.“

      Darauf sagten wir, wir hätten es uns überlegt: eigentlich wüssten wir gar nicht recht, was wir mit einer Dohle anfangen sollten. Er, der Förster, brauche eigentlich einen solchen Vogel viel notwendiger als wir.

      Der Förster spuckte auf den Boden, uns gerade dicht vor die Zehen, und sagte: „Wenn ich nicht wüsste, was ihr für mutige und kluge Kerle seid, würde ich denken, ihr fürchtet euch. Aber damit habt ihr recht, dass ich den Vogel notwendig brauche.“

      „Wozu brauchst du ihn denn?“ fragte ich neugierig.

      „Zum Geschichtenerzählen.“

      „Zum Geschichtenerzählen? Ei, wieso?“

      „Hm. Wenn ich abends müde aus dem Walde komme, ziehe ich mir die Stiefel aus, sperre die Hunde aus der Stube hinaus, setze mich in den Lehnstuhl und dann sag’ ich zu der Dohle: Beatrice, leg’ los!“

      „Und — und dann legt sie los?“

      „Legt sie los! Jawohl! Sie erzählt famos. Aber leider bloss lauter Räuber-, Gespenster- und Indianergeschichten. Andere weiss sie nicht. Alles zum Gruseln.“

      Räuber-, Gespenster- und Indianergeschichten! Das hielten Heinrich und ich damals für das Schönste auf der ganzen Welt. Wir hatten uns heimlich solche Bücher geliehen und einige davon gelesen, bis es die Fee erfuhr und uns sagte: sie hätte uns nicht mehr lieb, wenn wir so etwas wieder täten, denn solche Geschichten seien schlecht und dumm und erlogen. Da hatten wir es aus Liebe zur Fee unterlassen. Aber wenn wir nun eine Dohle hätten, die so etwas erzählen könnte, das wäre doch etwas anderes, denn eine Dohle ist doch kein Buch. Und man käme dann auf ehrliche Weise zu interessanten Geschichten.

      „Ja,“ sagte der Förster, „meine Grossmutter hört auch mit zu.“ Des Försters Grossmutter war 92 Jahre alt.

      „Borg’uns einen Hammer und einen Nagel!“ rief Heinrich; „wir gehen jetzt gleich zur Judasweide! Nimm deine Büchse und deinen Hirschfänger und geh mit.“

      „Wäre noch besser,“ meinte der Förster; allein müsst ihr gehen, und morgen abend ist die richtige Zeit; morgen ist Neumond.“ —

      Der nächste Abend war trübe und regnerisch. Den ganzen Tag hatten Heinrich und ich in schrecklicher Aufregung zugebracht. Kein Essen hatte uns geschmeckt, kein Spiel hatte uns gefallen und die Fee hatte uns ein paarmal ganz eigentümlich forschend angesehen. Schwache Augenblicke kamen, wo uns die ganze Sache leid wurde; aber dann dachten wir an die verzauberte Dohle, die Räubergeschichten erzählen konnte, und ein Fieberschauer von Glück, einen solch wundersamen Vogel besitzen, packte uns.

      Am späten Nachmittag holten wir aus dem Handwerkskasten einen Hammer und einen starken Nagel heraus und verbargen beides unter dem welken, abgefallenen Laub eines Kastanienbaumes.

      Als die ersten Lichter angezündet wurden, schauten wir uns starr in die Augen. Unter Heinrichs Wimpern blitzte eine Träne. Aber ich — ich hätte für schöne Geschichten mein Leben hingegeben und fasste ihn an der Hand.

      „Soll ich allein gehen?“ fragte ich.

      „Nein, ich lass’ dich nicht allein gehen,“ sagte er.

      Er war immer ein treuer Freund. Er borgte mir sogar seine Flinte.

      So schlichen wir uns aus dem Hof hinaus und gingen über die Felder. Der Wind jagte grauweisse Wolkenfetzen über den Himmel, und es regnete sacht. Wir kamen nach Ameisenfeld. Die ganze Stadt schlief. Wir gingen an der Wotanseiche vorbei. Sie stöhnte leise im Winde. Durch die Brombeerhecken brachen wir. Heinrich trug den Hammer; ich hatte den Nagel in der Hand wie einen spitzen Dolch. Manchmal war es mir, als ob er glühend heiss sei.

      Wir sprachen beide kein Wort, denn das hatte uns der Förster eingeschärft. Aber das Schweigen machte unsere Herzen noch beklommener.

      Nun tauchte der Geistergrund auf. Die niederen Erlen und Weiden zogen sich am schwarzen Graben entlang, eine hohe Ulme ragte über sie hinweg. Unter ihr sollten der Pilz und die Schlange gesehen worden sein. Und links von ihr, ein Stückchen vom Bachrande weg, war die Judasweide.

      Ich schloss die Augen. Wie ein Wirbel war es in meinem Kopf. Rote Ringe sah ich tanzen, ein brennendes Dorf sah ich, durch das auf schwarzem Ross der tolle Müller ritt. Dicker Schweiss rann mir unterm Hut hervor. Aber vorwärts ging es, immer vorwärts, zuletzt im Trab. Fest hielt ich den Nagel in der Hand. Heinrich strauchelte und fiel hin. Der Hammer entglitt ihm. Er hob ihn auf und packte mich fest am Arm. Unsere Herzen schlugen in rasender Schnelligkeit. Wir gingen immer noch vorwärts.

      Da — erst sah ich’s — dann sah’s Heinrich — dann fielen wir auf die Knie —

      Aus dem Erlengebüsch trat eine weisse Frau.

      Die Frau aus dem Moor — die Frau, die ihr Kleid wäscht —

      Wir schrieen laut um Hilfe.

      Es war nicht die Frau aus dem Moor. Es war Heinrichs Mutter. Es war unsere Fee.

      „Was wolltet ihr machen?“ fragte sie freundlich. Da gestanden wir alles.

      Sie zürnte uns nicht; sie strich uns beiden über die Köpfe.

      „Nun, habt keine Angst; es passiert euch nichts, ich bin ja bei euch!“

      Ja, nun wussten wir: es konnte uns nichts passieren, da sie bei uns war. Heinrich schlang den Arm um seine Mutter und küsste sie zweimal, und dann nahm ich sie um den Hals und küsste sie dreimal.

      Wir schritten ein paarmal an dem Graben auf und ab, ganz friedlich, als ob wir spazieren gingen, und nachdem wir etwa zehnmal ganz tief und erleichternd aufgeseufzt hatten, fühlten wir, dass unsere Herzen ruhiger wurden.

      „Hat euch der Förster gerade um die jetzige Stunde bestellt?“ fragte die Fee.

      „Jawohl, später als 6 Uhr dürfe es nicht sein, hat er gesagt.“

      „So wollen wir einmal hinübergehen in den Geistergrund,“ meinte sie. Wir gingen ruhig und ohne Angst mit ihr über den schmalen Steg, der über den schwarzen Graben führte. Sie hielt uns an den Händen und sagte:

      „Nun seht, wie still es hier ist, ebenso still wie überall im Walde.“

      Dann gingen wir schweigend weiter. Über dem moorigen Grund wuchs dichtes, weiches Moos, und wir gingen ganz unhörbar. Einmal blieb die Fee stehen und sagte leise:

      „Wenn euch etwas Seltsames oder Schreckliches auffällt, so erschreckt nicht oder schreit nicht; denn es ist ganz gewiss nichts wirklich Schreckliches.“

      Da fassten wir grossen Mut. Plötzlich aber blieben wir doch in jähem Schreck stehen.

      Unter der hohen Ulme war der Pilz, ein schrecklich grosser, blutroter Pilz, und unter dem Pilze lag eine Frau. Heinrich begann zu weinen, ich begann zu schlucken, die Fee aber fasste fest unsere Hände und rief ganz laut und ruhig: „Du Pilz und du Pilzweib, kommt einmal beide her!“

      Da schnellte plötzlich der verhexte Pilz hoch in die Höhe, das Weib richtete sich auf, und eine tiefe Stimme sagte:

      „O jemine, die gnädige Frau!“

      „Kommt nur mal näher!“ befahl die Fee.

      Unsere Herzen schlugen; aber es war jetzt mehr Neugierde als Angst.

      Der Pilz und die Frau wandelten ganz langsam auf uns zu. Und plötzlich brach Heinrich in ein lautes Gelächter aus, und ich lachte unter Tränen