seiner umstrittensten, problematischsten wie zugleich anregendsten Arbeiten. Die Faszination für die Figur des Moses zieht sich durch Freuds gesamtes Leben. Während der letzten Jahre schien er wie gebannt von dem „großen Mann“ und seinem schwierigen Vermächtnis – ein Vermächtnis, das in der Vergangenheit gründet, die Gegenwart bestimmt und die Zukunft beeinflußt. Dennoch zögerte Freud bis zuletzt, seine Studien zu veröffentlichen. Es gab nicht wenige, die ihn baten, sie nicht zu publizieren oder doch zumindest einige ihrer provokantesten Behauptungen abzumildern. Freuds These, Moses sei ein Ägypter gewesen, der von den Israeliten in der Wüste ermordet wurde, erschien (geschrieben am Vorabend der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden) nicht nur skandalös, sondern auch ohne jede solide historische Grundlage. Man fragt sich, was Freud dazu bewogen haben mochte, ein solches Buch zu veröffentlichen. Und dennoch: dem Porträt, das Freud von Moses und seinem Monotheismus zeichnet, hängt etwas Großartiges an.
Das Buch, 1939 veröffentlicht, provozierte bald nach seinem Erscheinen polemische Reaktionen. Selbst Freuds Anhänger brachte die schon in ihrem formalen Aufbau ungelenk anmutende und verwirrende Arbeit in Verlegenheit. Und die inhaltlichen „Argumente“ erschienen so offensichtlich abwegig, daß die ersten Interpreten dazu neigten, sich auf die Suche nach Freuds verdeckten und unbewußten Motiven zu konzentrieren. Ihnen ging es um die persönlichen Konflikte, die das Buch zu enthüllen schien, nicht um die sorgfältige Analyse dessen, was es tatsächlich sagt.
Immer wieder habe ich mich in den letzten Jahren Freuds Moses-Studie zugewandt. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß der Kern der Geschichte, die Freud uns erzählt, mit seinem Ringen um die Formulierung dessen zu tun hat, was er für das Wesen des (oder seines) Jüdischseins hält; es geht um die Frage nach dem Fortbestand des Judentums und den tiefen psychologischen Wurzeln des Antisemitismus. Die These, die ich in diesem Buch verteidigen möchte, lautet: Freud versucht in Der Mann Moses eine Frage zu beantworten, die er bereits in dem Vorwort zur hebräischen Übersetzung von Totem und Tabu gleichsam an sich selbst gerichtet hatte. Freud charakterisiert sich dort als jemanden, der nicht nur die Religion seiner Väter aufgegeben, sondern sich aller Religion entfremdet habe. Er fragt: „Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?“, und antwortet: „Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.“ Und trotz des Eingeständnisses, diese „Hauptsache“ gegenwärtig nicht in „klare Worte fassen“ zu können, glaubt Freud, sie werde „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“.1Es ist die Antwort auf eben diese Frage, die wir in Der Mann Moses und die monotheistische Religion finden.
Jahrzehntelang gab es so gut wie keine wirklich ernste und sorgfältige Auseinandersetzung mit diesem Werk. Diese Situation hat sich in den letzten zehn Jahren radikal geändert, das Buch eine fast explosionsartige Aufmerksamkeit erfahren. Es scheint, als setzte sich die verspätete Erkenntnis durch, Der Mann Moses gehöre zu den bedeutendsten Arbeiten Freuds. Denker ganz verschiedener Disziplinen ließen sich von Freuds dramatischer Erzählung, die von der ägyptischen Herkunft Moses’ und den Auseinandersetzungen um einen ethisch anspruchsvollen und den Charakter des Judentums formenden mosaischen Monotheismus handelt, in den Bann ziehen. Zur Hebung des begrifflichen Niveaus der Auseinandersetzung hat insbesondere Yosef Hayim Yerushalmis Buch Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum2 beigetragen. In Yerushalmis Arbeit sind die immensen Kenntnisse des exzellenten Historikers der jüdischen Tradition und Geschichte eingeflossen. Doch so sehr ich Yerushalmis Formulierungsgabe und Urteilskraft bewundere, so sehr zweifle ich, ob er Freud in seinem Buch wirklich gerecht wird. Denn ich möchte behaupten, daß Yerushalmis Hauptkritikpunkt an Freud – der Vorwurf, Freud habe sein Verständnis der jüdischen Tradition weitgehend auf das Fundament eines „diskreditierten Lamarckismus“ gestellt – uns gerade um einige der vielleicht produktivsten und fruchtbarsten Einsichten des Moses-Buchs bringt. Wichtige Anregungen hat meine Studie ferner von Jacques Derridas Dem Archiv verschrieben3 empfangen – eine Arbeit, die über weite Strecken Yerushalmis Buch kommentiert. Aus Gründen, die ich noch näher zu erläutern haben werde, stimme ich mit zahlreichen der kritischen und dekonstruktiven Bemerkungen Derridas überein. Als ich die erste Fassung dieses Buchs fertigzustellen begann, hatte ich schließlich das Glück, noch die Korrekturfahnen von Jan Assmanns Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur4 lesen zu können. Wenngleich Assmann, einer der führenden Ägyptologen, seine detaillierten Kenntnisse der ägyptischen Geschichte, Texte und Theologie zur Interpretation Freuds heranzieht, so liegt doch sein Hauptinteresse auf dem, was er „Gedächtnisgeschichte“ nennt: Assmann untersucht die Stellung des Ägypters Moses innerhalb der Geschichte des kulturellen Gedächtnisses des europäischen Monotheismus. Ich habe versucht, diese äußerst originelle Deutung von Freuds Der Mann Moses in meine Darstellung einzubeziehen. In jedem Fall aber werte ich den Umstand, daß so wichtige und aus so unterschiedlichen Disziplinen und kulturellen backgrounds kommende Denker wie Yerushalmi, Derrida und Assmann sich dem Mann Moses und die monotheistische Religion zugewandt haben, als eine weitere eindrucksvolle Bestätigung des produktiven Potentials, das in Freuds letztem Buch steckt.
Ich möchte im folgenden zunächst die Voraussetzungen meiner Freud-Interpretation klären. Wir sind uns, so meine ich, bis heute weder ganz darüber im klaren, was Freud sagt, noch haben wir angemessen die Fruchtbarkeit seines Nachdenkens über den Gehalt der religiösen Tradition und die unbewußten Prozesse ihrer Überlieferung gewürdigt. Ich glaube allerdings auch, daß Freud dem Gehalt des Judentums am Ende nicht gerecht geworden ist. Er neigt dazu, die schöpferische Einbildungskraft der Rituale, Zeremonien, Erzählungen, Bräuche und kulturellen Praktiken zu unterschätzen, die gerade die Mittel zur (bewußten oder unbewußten) Überlieferung dessen sind, was Freud als die große Errungenschaft des mosaischen Monotheismus herausstellt: den Fortschritt in der Geistigkeit. Ich verzichte darauf, diesen Kritikpunkt hier zu entfalten, da ich der Überzeugung bin, daß eine konstruktive Kritik nur an den stärksten und kohärentesten Formulierungen Freuds ansetzen sollte. Dies ist die begrenzte, wenn auch komplexe Aufgabe, die ich mir in diesem Buch gestellt habe.
Für ihre Lektüre des ersten Entwurfs dieser Studie habe ich zahlreichen Freunden zu danken. Ihre instruktiven und kritischen Kommentare waren mehr als hilfreich; sie haben mich dazu bewegt, den gesamten Entwurf noch einmal zu überarbeiten. Ich konnte mir nicht alle Einwände zu eigen machen, bin aber sicher, daß die perspektivenreiche Kritik viel zur Verbesserung des Textes beigetragen hat. Vor allem bin ich dankbar für die Hilfe von Kollegen ganz verschiedener Disziplinen: Carol Bernstein (Literaturwissenschaft), Edward Casey (Philosophie), Louise Kaplan (Psychoanalyse), Wayne Proudfoot (Religionswissenschaft), Joel Whitebook (Philosophie und Psychoanalyse), Nicholas Woltersdorff (Philosophie und philosophische Theologie) und Eli Zeretsky (Geschichte). Ich möchte ferner meiner Forschungsassistentin, Lynne Taddeo, für Rat und Hilfe bei der Vorbereitung meines Manuskripts für die Publikation danken.
Jan Assmann beschreibt, wie er, einmal damit begonnen, die Arbeit an seinem Freud-Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte, um sich anderen Projekten zu widmen, bevor es nicht fertiggestellt war. Der Diskurs über Moses, schreibt er, hatte ein Eigenleben gewonnen, dem man sich nicht entziehen konnte. Auch ich habe diese zwingende Kraft und produktive Unruhe gespürt. Ich bin sicher, daß Freud dies bestens verstanden hätte.
Kapitel 1
Der ägyptische Ursprung des Monotheismus und die Ermordung Moses’
Prolog
Im Dezember 1930 schreibt Freud ein kurzes, aber bemerkenswertes Vorwort für die hebräische Übersetzung von Totem und Tabu:
„Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche