Richard J. Bernstein

Freud und das Vermächtnis des Moses


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Fällen, die sich verwerten lassen [Freud geht weder genauer auf diese „Fälle“ ein, noch klärt er die Kriterien der angesprochenen „Verwertung“ auf], die erfundene ist, die spätere aber, in der es aufgenommen wird und aufwächst, die wirkliche. Haben wir den Mut, diesen Satz als eine Allgemeinheit anzuerkennen, der wir auch die Mosessage unterwerfen, so erkennen wir mit einem Male klar: Moses ist ein – wahrscheinlich vornehmer – Ägypter, der durch die Sage zum Juden gemacht werden soll. Und das wäre unser Resultat!“21

      Man ist unschlüssig, ob man diese Argumentation ernst nehmen kann – und sei es auch nur als eine Art Anwendung der Psychoanalyse. Ein ungeneigter Leser würde vielleicht sogar von einer reductio ad absurdum sprechen. Freud baut jedenfalls auf jeder Stufe seines Begründungszusammenhangs Formen unbewiesenen und spekulativen Argumentierens ein. Am Ende seiner kurzen Abhandlung wirft Freud eine Frage auf, die seinen Lesern in der Tat auf der Zunge liegt: „Wenn nicht mehr Sicherheit zu erreichen war, warum habe ich diese Untersuchung überhaupt zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht?“ In der Tat: warum eigentlich? Freud gibt auch auf diese Frage nur Andeutungen, keine expliziten Hinweise auf das, was er später schließlich darlegen würde:

      „Läßt man sich nämlich von den beiden hier angeführten Argumenten fortreißen und versucht, Ernst zu machen mit der Annahme, daß Moses ein vornehmer Ägypter war, so ergeben sich sehr interessante und weitreichende Perspektiven. Mit Hilfe gewisser, nicht weit abliegender Annahmen glaubt man die Motive zu verstehen, die Moses bei seinem ungewöhnlichen Schritt geleitet haben, und in engem Zusammenhang damit erfaßt man die mögliche Begründung von zahlreichen Charakteren und Besonderheiten der Gesetzgebung und der Religion, die er dem Volke der Juden gegeben hat, und wird selbst zu bedeutsamen Ansichten über die Entstehung der monotheistischen Religionen im allgemeinen angeregt.“22

      Mit solch vagen Andeutungen weckt Freud eine Neugier, deren Befriedigung seine Abhandlung dem Leser zugleich verweigert. Und psychologische Wahrscheinlichkeiten reichen ohnehin nicht aus, um so weitreichende historische Annahmen zu beweisen, zumal die objektiven Befunde über die geschichtliche Periode, in der Moses lebte, dürftig sind. Daher bemerkt Freud im letzten Satz seiner Abhandlung, daß ein „objektiver Nachweis“ für das „Ägyptertum Moses’“ sich kaum würde finden lassen, „und darum soll die Mitteilung aller weiteren Schlüsse aus der Einsicht, daß Moses ein Ägypter war, besser unterbleiben.“23 Freuds Leser hatten deshalb Monate auf eine Fortsetzung zu warten, die genauer auf die Hinweise eingeht, die in der ersten, kurzen Abhandlung nur angerissen wurden. Und es ist insofern alles andere als Zufall, daß das Wichtigste an dem elliptischen Titel, den der Fortsetzungsaufsatz trug, „Wenn Moses ein Ägypter war…“, die Auslassungszeichen sind.

      Vor aller weiteren Textanalyse möchte ich noch einmal nach dem Motiv fragen, das Freud dazu bewegt haben mag, eine solch knappe und wenig schlüssige Abhandlung zu veröffentlichen. Die Studie scheint weder für die historische Forschung signifikante Neuerkenntnisse zu bieten, noch Wesentliches zum Verständnis der Psychoanalyse beizutragen. Freuds anfängliches Unbehagen an einer Veröffentlichung seiner Thesen kann aber auch nicht allein mit dem Mangel an „objektiven Nachweisen“ für seine Überlegungen zu tun haben. Mir scheint die abwartende Haltung in bezug auf die erste Abhandlung vielmehr eine Art Strategie gewesen zu sein, um einen ungefähren Eindruck von der Rezeption und Aufnahme ihrer Thesen und den möglichen Folgen zu erhalten. In gewisser Weise scheint Freud (der wußte, welche Texte er noch zurückhielt) erst einmal behutsam die „Wassertemperatur“ geprüft zu haben.

      Die Ellipse: Wenn Moses ein Ägypter war…

      Erst die zweite Abhandlung, „Wenn Moses ein Ägypter war…“, entwickelt den ganzen dramatischen Gang der historischen Handlung. Die Abhandlung liest sich wie die Inhaltsangabe einer „historischen Erzählung“, die ihren dramatischen Höhepunkt mit der Schilderung der Ermordung Moses’ durch eben die Semiten, die er aus Ägypten geführt hatte, erreicht. Ungeachtet der verstörenden (und für einen streng religiösen Juden oder Christen blasphemischen) Thesen, die er aufstellt, leitet Freud die zweite Abhandlung mit einer Darlegung seiner Bedenken vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse ein. „Je bedeutsamer die so gewonnenen [d.h. auf psychologischen Wahrscheinlichkeiten ruhenden] Einsichten sind, desto stärker verspüre man die Warnung, sie nicht ohne sichere Begründung dem kritischen Angriff der Umwelt auszusetzen, gleichsam wie ein ehernes Bild auf tönernen Füßen.“24 Es sollte den Leser stutzig machen, wenn Freud (in einer Formulierung, auf die wir noch zurückkommen werden) sagt: „Aber es ist wiederum nicht das Ganze und nicht das wichtigste Stück des Ganzen.“25

      Blickt man auf das Erscheinungsdatum der Abhandlung, 1937, so dürfte die Form, in der Freud seine historische Rekonstruktion präsentiert, wohl kaum die Empörung und das Entsetzen seiner jüdischen Mitbürger verhindert haben. Der erste Absatz der Abhandlung enthält bereits eine abfällige Bemerkung über die „Talmudisten“, „die es befriedigt, ihren Scharfsinn spielen zu lassen, gleichgültig dagegen, wie fremd der Wirklichkeit ihre Behauptung sein mag.“26 Freud scheint gleichsam die Vorwürfe an seine Adresse vorwegzunehmen und sich gegen mögliche Angriffe zu verteidigen. Am Beginn seiner genaueren Darstellung der These über die ägyptische Abstammung Moses’ charakterisiert Freud die Semiten (also die Juden im Ägypten der Zeit Moses’) näher so:

      „Aber was einen vornehmen Ägypter – vielleicht Prinz, Priester, hoher Beamter – bewegen sollte, sich an die Spitze eines Haufens von eingewanderten, kulturell rückständigen Fremdlingen zu stellen und mit ihnen das Land zu verlassen, das ist nicht leicht zu erraten.“27

      Es gehört zu den erstaunlichsten Zügen der zweiten Abhandlung „Wenn Moses ein Ägypter war…“, daß sie offenbar als eine „rein historische Studie“28 über das gelesen werden will, was tatsächlich geschehen sein könnte. Freud zieht hier keinerlei explizite Verbindung zur Psychoanalyse. Im Gegenteil: Er vermeidet sichtlich jeden Versuch einer psychoanalytischen Interpretation – und zwar selbst dort, wo eine solche sich ganz offensichtlich anbietet (etwa gelegentlich der Ausführungen zum Beschneidungsritus). Ich vermute, daß die zeitgenössischen Leser – gesetzt, die Abhandlung wäre anonym erschienen – durchaus auch zu dem Schluß hätten kommen können, daß sie es hier mit einem etwas verschrobenen Autor zu tun haben, der die fesselnde Geschichte eines ägyptischen Adeligen, Moses, erfindet, dessen Versuch, den „wilden Semiten“ eine übernommene monotheistische Religion aufzuzwingen, damit endet, daß diese „das Schicksal in ihre Hand [nahmen] und […] den Tyrannen aus dem Wege [räumten]“29. Die Werke ausgewählter Historiker, Bibelforscher und Alttestamentler zieht Freud rein unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für seine These heran. Für dieses Vorgehen gilt offenbar ähnliches wie für die willkürliche Auswahl der Bibelstellen, die er vorsorglich in einer Fußnote rechtfertigt:

      „Wenn wir mit der biblischen Tradition so selbstherrlich und willkürlich verfahren, sie zur Bestätigung heranziehen, wo sie uns taugt, und sie unbedenklich verwerfen, wo sie uns widerspricht, so wissen wir sehr wohl, daß wir uns dadurch ernster methodischer Kritik aussetzen und die Beweiskraft unserer Ausführungen abschwächen. Aber es ist die einzige Art, wie man ein Material behandeln kann, von dem man mit Bestimmtheit weiß, daß seine Zuverlässigkeit durch den Einfluß entstellender Tendenzen schwer geschädigt worden ist. Eine gewisse Rechtfertigung hofft man später zu erwerben, wenn man jenen geheimen Motiven auf die Spur kommt. Sicherheit ist ja überhaupt nicht zu erreichen, und übrigens dürfen wir sagen, daß alle anderen Autoren ebenso verfahren sind.“30

      Ein Hinweis auf die Frage, warum Freud – der in der ersten Abhandlung noch behauptet, sein Beitrag sei allein eine „Anwendung der Psychoanalyse“ – nun den psychoanalytischen Ansatz beiseite schiebt und seine zweite Abhandlung in den Mantel einer historischen Studie hüllt, deren Ziel die Aufhellung einer Begebenheit des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts ist, finden wir indessen nur im Rückgang auf die erste Abhandlung. Freuds wichtigstes Argument zur Begründung seiner These beruhte zunächst auf seiner psychoanalytischen Interpretation des Mythos von der Verstoßung des Volkshelden. Freud glaubt Fragmente dieses Mythos in den Sagen über Sargon von Akkad, Moses, Cyrus, Romulus, Ödipus, Karna, Paris,