den biblischen Text zur Untermauerung seiner Hypothese über die Einführung der Beschneidung heran. Denn er interpretiert auf diese Weise den Satz aus Exodus 19:6, der von den Israeliten als einem „heiligen Volk“ spricht. Wenn Freud so argumentiert, muß er sich allerdings fragen lassen, wie es dann um die traditionelle Interpretation der Beschneidung als einem Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham, dem gleichsam fleischgewordenen Siegel des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk, steht. Diese traditionelle Deutung blendet Freud systematisch aus.
„Moses hat den Juden nicht nur eine neue Religion gegeben; man kann auch mit gleicher Bestimmtheit behaupten, daß er die Sitte der Beschneidung bei ihnen eingeführt hat. Diese Tatsache hat eine entscheidende Bedeutung für unser Problem und ist kaum je gewürdigt worden. Der biblische Bericht widerspricht ihr zwar mehrfach, er führt einerseits die Beschneidung in die Urväterzeit zurück als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham, andererseits erzählt er an einer ganz besonders dunklen Stelle, daß Gott Moses zürnte, weil er den geheiligten Gebrauch vernachlässigt hatte, daß er ihn darum töten wollte und das Moses’ Ehefrau, eine Midianiterin, den bedrohten Mann durch rasche Ausführung der Operation vor Gottes Zorn rettete. Aber dies sind Entstellungen, die uns nicht irremachen dürfen; wir werden später Einsicht in ihre Motive gewinnen. Es bleibt bestehen, daß es auf die Frage, woher die Sitte der Beschneidung zu den Juden kam, nur eine Antwort gibt: aus Ägypten.“45
Freuds vielleicht originellste Einsicht in die Problematik besteht aber in dem Kunstgriff, in der Analyse der Eigenart der Beschneidungssitte einen weiteren Beweis der ägyptischen Herkunft Moses’ zu liefern. Freuds Argument:
„Herodot, der ‚Vater der Geschichte‘ teilt uns mit, daß die Sitte der Beschneidung in Ägypten seit langen Zeiten heimisch war, und seine Angaben sind durch die Befunde an Mumien, ja durch Darstellungen an den Wänden von Gräbern bestätigt worden. Kein anderes Volk des östlichen Mittelmeeres hat, soviel wir wissen, diese Sitte geübt; von den Semiten, Babyloniern, Sumerern ist es sicher anzunehmen, daß sie unbeschnitten waren. Von den Einwohnern Kanaans sagt es die biblische Geschichte selbst; es ist die Voraussetzung für den Ausgang des Abenteuers der Tochter Jakobs mit dem Prinzen von Sichem. Die Möglichkeit, daß die in Ägypten weilenden Juden die Sitte der Beschneidung auf anderem Wege angenommen haben als im Zusammenhange mit der Religionsstiftung Moses’, dürfen wir als völlig haltlos abweisen. Nun halten wir fest, daß die Beschneidung als allgemeine Volkssitte in Ägypten geübt wurde, und nehmen für einen Augenblick die gebräuchliche Annahme hinzu, daß Moses ein Jude war, der seine Volksgenossen vom ägyptischen Frondienst befreien, sie zur Entwicklung einer selbständigen und selbstbewußten nationalen Existenz außer Landes führen wollte – wie es ja wirklich geschah –, welchen Sinn konnte es haben, daß er ihnen zur gleichen Zeit eine beschwerliche Sitte aufdrängte, die sie gewissermaßen selbst zu Ägyptern machte, die ihre Erinnerung an Ägypten immer wachhalten mußte, während sein Streben doch nur aufs Gegenteil gerichtet sein konnte, daß sein Volke sich dem Lande der Knechtschaft entfremden und die Sehnsucht nach den ‚Fleischtöpfen Ägyptens‘ überwinden sollte? Nein, die Tatsache, von der wir ausgingen, und die Annahme, die wir an sie anfügten, sind so unvereinbar miteinander, daß man den Mut zu einer Schlußfolge findet: Wenn Moses den Juden nicht nur eine neue Religion, sondern auch das Gebot der Beschneidung gab, so war er kein Jude, sondern ein Ägypter, und dann war die mosaische Religion wahrscheinlich eine ägyptische, und zwar wegen des Gegensatzes zur Volksreligion die Religion des Aton, mit der die spätere jüdische Religion auch in einigen bemerkenswerten Punkten übereinstimmt.“46
Wir mögen ein Unbehagen an der laxen Art und Weise spüren, mit der Freud sich der hebräischen Bibel dort bedient, wo sie seine Argumentation stützt, aber als störend beiseite schiebt, wo sie seine Annahmen durchkreuzt. Und in der Tat setzt sich Freud ernsthaften methodologischen Einwänden aus, wenn er, nicht ohne Selbstbewußtsein, behauptet: „Den biblischen Bericht über Moses und den Auszug kann kein Historiker für anderes halten als für fromme Dichtung, die eine entlegene Tradition im Dienste ihrer eigenen Tendenzen umgearbeitet hat.“47 Freud legt die Kriterien für seinen selektiven Blick auf die biblische Erzählung und die Auswahl der Stellen, die er als Zeugen der historischen Wahrheit erachtet, und solcher, die er für Entstellungen hält, nirgendwo wirklich offen. Man kann sich daher auch des Eindrucks nicht erwehren, Freud habe, überzeugt von der Richtigkeit seiner Deutung, die Bibel noch einmal selektiv auf die Passagen durchgesehen, die seinen Ansatz stützen. Mehrfach behauptet er in der zweiten Abhandlung, daß der fromme Schriftsteller in seiner Überlieferung und Redaktionierung der biblischen Erzählung „eigenen Tendenzen“ folge. Daß er selbst sich diesem Verdacht aussetzt, scheint Freud, seiner Pose des interesselosen, allein die historischen Fakten ermittelnden Historikers zum Trotz, offenbar nicht einzuleuchten.
Ich glaube, wir können nicht rechtfertigen, aber doch verstehen, warum Freud auf diese Weise vorgeht. Nehmen wir an, Freud hätte Recht mit seinen Vermutungen über den Auszug der Juden aus Ägypten und auch über das Schicksal Moses’. Sollten die Semiten ihn tatsächlich ermordet haben, so macht es ja durchaus Sinn, daß die Schriftsteller, die den Pentateuch-Text niederschrieben und redaktionierten, dies haben verschweigen wollen. Sie hätten entsprechend versucht, alle Spuren der Tat in der biblischen Erzählung zu verwischen.48 Uns leuchtet demnach auch der Sinn von Freuds berühmter Analogie zwischen Mord und Textentstellung ein:
„Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Worte ‚Entstellung‘ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen.“49
Freud zieht die Analogie von Mord und Textentstellung zur Charakterisierung der (angeblichen) Beseitigung des Textes über die Ermordung Moses’ heran. Haben die frommen biblischen Schriftsteller den Mord an Moses verheimlichen wollen, so ist es nun die Aufgabe des (psychoanalytisch-) detektivischen Historikers, diejenigen Spuren des Mordes, die noch nicht vollkommen verwischt wurden, lesbar zu machen.
Wir können diese Analogie freilich auch auf Freuds eigenen Text anwenden – ein Text, der selber „fast in allen Teilen auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche“50 aufweist. Was aber wurde dann hier entstellt und beseitigt? Was könnte Freud „in seiner Erscheinung verändert“ und „an eine andere Stelle“ gebracht haben? Wir haben jedenfalls allen Grund anzunehmen, daß es solche Entstellungen gibt. Erinnern wir uns etwa der Eingangspassage von Freuds Abhandlung: „Aber es ist wiederum nicht das Ganze und nicht das wichtigste Stück des Ganzen.“51 Was also ist das Ganze, und: Lassen sich in dieser Abhandlung Spuren des wichtigsten Stücks des Ganzen entdecken?
Man wird diese Fragen angemessen sicher nicht ohne die Betrachtung der dritten und wichtigsten Abhandlung, „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“, beantworten können. Ich möchte trotzdem einen Schritt zurückgehen und noch einmal die beiden ersten Abhandlungen heranziehen – Abhandlungen, die zu einem Zeitpunkt publiziert wurden, als Freud noch in Wien lebte und die allgegenwärtige Bedrohung der europäischen Juden (und der Disziplin der Psychoanalyse) allerorts spüren konnte.
Lassen wir also noch einmal unsere Zweifel und Vorbehalte beiseite und nehmen an, Freuds Behandlung des Themas sei mehr oder weniger historisch korrekt. Zu welchen Erkenntnissen ist Freud bisher gelangt? Hier seine prägnante Zusammenfassung:
„Hiermit wäre ich zum Abschluß meiner Arbeit gelangt, die ja nur der einzigen Absicht dienen sollte, die Gestalt eines ägyptischen Moses in den Zusammenhang der jüdischen Geschichte einzufügen. Um unser Ergebnis in der kürzesten Formel auszudrücken: Zu den bekannten Zweiheiten dieser Geschichte – zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammentreten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellenschriften der Bibel – fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen, die erste