ist es also ein Erlebnis ganz besonderer Art, wenn sein Buch in die hebräische Sprache übertragen und Lesern in die Hand gegeben wird, denen dies historische Idiom eine lebende ‚Zunge‘ bedeutet. Ein Buch überdies, das den Ursprung von Religion und Sittlichkeit behandelt, aber keinen jüdischen Standpunkt kennt, keine Einschränkung zugunsten des Judentums macht. Aber der Autor hofft, sich mit seinen Lesern in der Überzeugung zu treffen, daß die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.
Wien, im Dezember 1930.“1
Wie so viele Passagen der Prosa Freuds ist auch diese Textstelle eigentümlich schnörkellos, komplex und provokativ zugleich. Was meint Freud, wenn er sagt, er sei, ungeachtet seiner Entfremdung von der „väterlichen Religion – wie jeder andern“, dem Wesen nach Jude? Was heißt es, wenn er vermutet, daß dieses Wesentliche „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ werde? Ein Grund für die Provokation, die dieses Vorwort darstellt, dürfte in der äußerst pointierten Formulierung eines Phänomens liegen, das nicht nur Freud, sondern viele säkulare, nicht-gläubige Juden immer wieder versucht haben auszudrücken: daß sie, ungeachtet ihrer Ablehnung der „väterlichen Religion“, wesentlich Juden sind. Wie man der Religion seiner Väter vollkommen entfremdet sein und sich doch in seiner „Eigenart als jüdisch“ empfinden kann, erscheint ausgesprochen paradox. Läßt sich, so muß man fragen, die Religion des Judentums von der spezifischen Eigenart des Judeseins überhaupt trennen? Und die Verwirrung wird perfekt, wenn wir uns vor Augen halten, daß in dem Buch Totem und Tabu, dessen hebräischer Fassung dieses Vorwort vorangestellt war, die Begriffe Judentum, Jude oder Judesein nicht einmal vorkommen.
Hat Freud jemals die von ihm gestellte Frage nach dem „Wesentlichen“ des Judeseins beantwortet – oder zu beantworten versucht? Glaubte er tatsächlich, daß eine solche Antwort „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ würde? Die These, die ich in diesem Buch zur Diskussion stelle, lautet: Freud unternahm in der Tat den Versuch zur Beantwortung dieser Fragen. Und das Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist das zentrale Dokument dieses Versuchs.2 Es ist freilich ein Buch, das seine Leser provozierte und befremdete; ein Buch, das offensichtlich ungeschickt und behäbig geschrieben ist; ein Buch, an dem viele das Nachlassen der schöpferischen und schriftstellerischen Kraft des alternden Freud bemerken wollten; ein Buch, dessen historische Behauptungen reiner Phantasie entsprungen zu sein scheinen – Freuds „prächtiges Luftschloß“3; ein Buch schließlich, das viele als ein Zeugnis des angeblichen jüdischen Selbsthasses Freuds interpretiert haben. Im Licht der ersten Sätze des Buchs scheint meine These allerdings ihrerseits von der oben beschriebenen Paradoxie bestimmt zu sein: „Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört.“4
Der Boden für die Beweiskraft meiner These ist bereits von einer Reihe ausgezeichneter Interpretationen bereitet worden: ich meine die Interpretationen Yosef Hayim Yerushalmis, Jan Assmanns und Jacques Derridas.5 Sie alle haben sorgfältige und gedankenreiche Deutungen des vielleicht eigenartigsten Buchs von Freud vorgelegt. Wenngleich ich hier nicht alle Perspektiven und Wege werde erörtern können, die diese Interpretationen uns eröffnet haben (und ich immer auch anzugeben versuche, wo ich den Weg dieser Interpretationen verlasse), so möchte ich doch hervorheben, wieviel ich ihnen verdanke.
Allem zuvor scheint mir noch ein Vorausblick und eine Warnung angebracht. Wenn Freud in Aussicht stellt, das Wesen des Judentums werde „später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“, und sein Vorwort mit den Worten schließt, daß „die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann“, so meint er mit dieser Wissenschaft natürlich die Psychoanalyse. Freud war der festen Überzeugung, daß man den Gehalt der Religion (und den des Judentums insbesondere) ohne die Einsichten der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse kaum zureichend würde begreifen können. Allerdings vermeidet Freud jede simple Reduzierung der Religion auf Psychoanalyse. Er hebt ausdrücklich und emphatisch hervor, daß wir im Verständnis religiöser Phänomene mit monokausalen Erklärungen und einfachen Herleitungen nicht weiterkommen. Entsprechend läßt er den vierten Aufsatz von Totem und Tabu (der Teil, in dem Freud seine Hypothese vom Ursprung des Totemismus in der „Beseitigung des Urvaters durch die Brüderschar“6 darlegt), mit den Worten beginnen:
„Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufgedeckt hat, braucht man nicht zu besorgen, daß sie versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzuleiten. Wenn sie in notgedrungener, eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen dieser Institution zur Anerkennung bringen will, so beansprucht sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie den ersten Rang unter den zusammenwirkenden Momenten. Erst eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörternden Mechanismus in der Genese der Religion zuzuteilen ist; eine solche Arbeit überschreitet aber sowohl die Mittel als auch die Absicht des Psychoanalytikers.“7
Die Versuchung, die Lehrbegriffe der Psychoanalyse einfach auf Freud selbst anzuwenden – insbesondere mit Blick auf seine jüdische Herkunft und die Bedeutung der Moses-Studie – ist selbstverständlich groß. Entsprechend haben manche Interpreten versucht, Freud „auf die Couch“ zu legen. Sie spekulieren über die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater Jakob vor dem Hintergrund der Freudschen Hypothese über die Israeliten und der Beziehung zu ihrer Vaterfigur Moses. Ich halte es für unerläßlich, solchen Versuchungen zu widerstehen und sich an die Argumente und Begründungszusammenhänge zu halten. Freud selber befragt fortwährend die Argumente, die er in den drei Abhandlungen seines Moses-Buchs zur Diskussion stellt. Die Frage ist nur: Wie überzeugend sind sie? Da Freuds Vermutungen zuweilen weit hergeholt oder gar miteinander unvereinbar scheinen, haben seine Interpreten allzu schnell nach einem geheimen Sinn oder aber nach äußerlichen Deutungsmustern dafür gesucht, warum Freud das schreibt, was er schreibt. Die erste Aufgabe des Interpreten besteht jedoch darin, auf den Gehalt des Gesagten genau zu achten und den zentralen Thesen und Argumenten des Textes gerecht zu werden. Ich werde aus diesem Grund Freud in extenso zitieren und den Linien seiner Argumentation genau zu folgen versuchen. Ein solches close reading macht es freilich erforderlich, zentrale Passagen aus dem Freudschen Werk noch einmal ausführlich in Erinnerung zu rufen, um ihre volle Bedeutung herausarbeiten zu können.
In seinem berühmten Versuch über Freud, Die Interpretation, hat Paul Ricœur seine – inzwischen gebildetes Allgemeinwissen gewordene – Unterscheidung zwischen den zwei einander entgegengesetzten Formen der Hermeneutik eingeführt. Er unterscheidet eine reduktive und entmystifizierende Hermeneutik, eine Interpretation als „Übung des Zweifels“ und eine nicht-reduktive und restaurative Hermeneutik, eine Interpretation als „Sammlung des Sinns“.8 Mit Blick auf diese beiden Arten der Interpretation hat man in der Regel (besonders im Zusammenhang von Freuds Moses) der Hermeneutik des Zweifels den Vorzug gegeben. Zwischen den beiden entgegengesetzten Weisen besteht aber eine komplexe dialektische Beziehung – ein Punkt, auf den, was leider meist übersehen wurde, Ricœur stets selbst hingewiesen hat: Beide Seiten setzen sich wechselseitig voraus. Denn der Prozeß der Entmystifizierung kommt gar nicht erst in Gang, bevor wir nicht sorgfältig den manifesten Textsinn erfaßt haben. Dieser Vorgang ist die Voraussetzung für die Aufdeckung und Entmystifizierung des Textes. Es gibt in Freuds Argumentation zahlreiche Stellen, an denen eine ernste, mitunter vernichtende, Kritik einhaken muß – und ich werde nicht zögern, solche Stellen aufzuzeigen. Aber der grundlegende Standpunkt, den ich in dieser Studie einnehme, ist der hermeneutische Grundsatz, der besagt, man müsse stets den jeweils stärksten Punkt der Argumentation hervorheben. Ich tue dies nicht aus Einverständnis mit Freud oder weil ich seine Charakteristik des Wesens der jüdischen Religion im ganzen überzeugend fände, sondern weil die Kraft und die Reichweite der Freudschen Theorie über Religion, Tradition, die jüdische Religion und ihr Überleben bislang nicht ausreichend dargelegt und aufgearbeitet worden ist.
Die