der ersten, der Tatsache, daß der eine Bestandteil des Volkes ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt hatte, das dem anderen fern geblieben war. Darüber hinaus gäbe es noch sehr viel zu erörtern, zu erklären und zu behaupten. Erst dann ließe sich eigentlich das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen. Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, welchen Frevel an der großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens man begeht, wenn man nur Motive aus materiellen Bedürfnissen anerkennen will, aus welchen Quellen manche, besonders die religiösen Ideen die Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker unterjochen – all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren wäre eine verlockende Aufgabe. Eine solche Fortsetzung meiner Arbeit würde den Anschluß finden an Ausführungen, die ich vor 25 Jahren in Totem und Tabu [1912-13] niedergelegt habe. Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten.“52
Abermals eine eloquente, eine bewegende, aber ausweichende Schlußfolgerung. Freud erwähnt die Ermordung Moses’ nicht explizit. Er nennt sie nur implizit: Ein Teil des Volkes habe „ein traumatisch zu wertendes Erlebnis“ gehabt. Man könnte fast von einer Parallele zwischen Freud und dem biblischen Moses sprechen – Moses führt die Israeliten in das gelobte Land, betritt es aber nicht mehr. Und der Schlußabsatz ist voller Versprechen – Versprechen, die der alternde, dem Ende seines Lebens sich nähernde Freud vielleicht niemals einzulösen vermocht hätte. Bis hierher hat uns Freud eine schlüssige Geschichte erzählt, aber ihre Bedeutung, insbesondere ihr psychoanalytischer Gehalt, ist damit noch nicht zum Vorschein gekommen. Freud verweist darauf, es sei noch „viel zu erörtern“, in dessen Licht sich erst „das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen“ ließe.
Rufen wir uns auch das Ende der ersten Abhandlung noch einmal ins Gedächtnis zurück. Freud schrieb dort, daß, wenn wir „Ernst […] machen mit der Annahme, daß Moses ein vornehmer Ägypter war“, sich „sehr interessante und weitreichende Perspektiven“ ergäben. Es ließe sich auf dieser Basis eine „mögliche Begründung von zahlreichen Charakteren und Besonderheiten der Gesetzgebung und der Religion, die er dem Volke der Juden gegeben hat“, erfassen, und wir würden außerdem „selbst zu bedeutsamen Ansichten über die Entstehung der monotheistischen Religionen im allgemeinen angeregt“53 – ein Versprechen, das Freud zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs eingelöst hat. Was also haben diese angeblich historischen Ereignisse aus der Mitte des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts mit dem jüdischen Volk heute zu tun? Und was heißt dies für die These, die ich meinen Untersuchungen vorangestellt hatte: daß wir in Der Mann Moses und die monotheistische Religion Freuds Antwort auf die Frage nach dem Wesen des (bzw. seines) Judentums finden? Wenn wir auch erst mit einer genauen Untersuchung der dritten Abhandlung diesen Antworten näherkommen werden, so glaube ich doch, daß sich bereits Spuren der von Freud vorgeschlagenen Lösung abzeichnen.
Moses’ Monotheismus: Erste Hinweise
Um zeigen zu können, daß wir wesentliche Andeutungen auf Freuds zentrale These bereits erhalten haben, möchte ich eine grundlegende Frage an seine historische Darstellung richten, die ich bislang noch nicht genauer ausgeführt habe. Sollten die ägyptischen Semiten tatsächlich Moses ermordet haben, was waren ihre Motive? Schlicht gefragt: Warum haben die Juden Moses getötet? Um dies zu beantworten, sollten wir zunächst Freuds Verständnis jener monotheistischen Religion untersuchen, die die Juden sich aufgebürdet hatten. Die gesamte zweite (und ausdrücklicher noch die dritte) Abhandlung durchzieht eine subtile, aber äußerst aufschlußreiche Aufwertung der „geistigen“ Bedeutung des Monotheismus gegenüber den „primitiveren“ Formen des Polytheismus.54 Wenden wir uns deshalb einigen Details in Freuds historischer Darstellung der Ursprünge der Aton-Religion in Ägypten und ihren Beziehungen zum jüdischen Monotheismus zu.
Die „auf Moses zurückgeführte[…] jüdische[…] Religion“ ist „ein großartig starrer Monotheismus; es gibt nur einen Gott, er ist einzig, allmächtig, unnahbar; man verträgt seinen Anblick nicht, darf sich kein Bild von ihm machen, nicht einmal seinen Namen aussprechen.“55 Freud stellt dies zunächst so dar, als stünde diese Charakterisierung seiner Behauptung vom ägyptischen Ursprung der jüdischen Religion vollkommen entgegen. In der Zeit vor Echnaton war die ägyptische Religion ein ungebrochener und „primitiver“ Polytheismus. Der Unterschied von mosaischer Religion und ägyptischem Polytheismus zeigt sich als der „schärfste[…] Gegensatz“56.
„In der ägyptischen Religion eine kaum übersehbare Schar von Gottheiten verschiedener Würdigkeit und Herkunft, einige Personifikationen von großen Naturmächten wie Himmel und Erde, Sonne und Mond, auch einmal eine Abstraktion wie die Maat (Wahrheit, Gerechtigkeit) oder eine Fratze wie der zwerghafte Bes, die meisten aber Lokalgötter aus der Zeit, da das Land in zahlreiche Gaue zerfallen war, tiergestaltig, als hätten sie die Entwicklung aus den alten Totemtieren noch nicht überwunden, unscharf voneinander unterschieden, kaum daß einzelnen besondere Funktionen zugewiesen sind.“57
Demgegenüber verdammt die mosaische Religion Magie und Zauberei auf das Strengste. Sie erläßt „das rauhe Verbot […] irgendein lebendes oder gedachtes Wesen in einem Bildnis darzustellen“, während im ägyptischen Polytheismus „jede Art von Magie und Zauberwesen […] aufs üppigste wuchern“. Die Ägypter treibt eine „unersättliche Lust […], ihre Götter in Ton, Stein und Erz zu verkörpern“. „Die altjüdische Religion“, so Freud weiter, habe „auf die Unsterblichkeit voll verzichtet; der Möglichkeit einer Fortsetzung der Existenz nach dem Tode wird nirgends und niemals Erwähnung getan.“ Ganz anders der ägyptische Polytheismus: „Kein anderes Volk des Altertums hat soviel getan, um den Tod zu verleugnen […], und dementsprechend war der Totengott Osiris, der Beherrscher dieser anderen Welt, der populärste und unbestrittenste aller ägyptischen Götter.“58
Freud stellt den Gegensatz von jüdischem Monotheismus und ägyptischem Polytheismus deshalb so stark in den Vordergrund, weil er hervorheben will, welche Fakten seiner Hypothese vom ägyptischen Ursprung des jüdischen Monotheismus zunächst ganz offensichtlich entgegenzustehen scheinen. Aber die Pointierung dieses „prinzipiellen Gegensatzes“59 dient noch einer anderen Absicht. Freud möchte den revolutionären Charakter des vom jungen Pharao Amenhotep IV (der seinen Namen in Echnaton änderte)60 während „der glorreichen 18ten Dynastie“ begonnenen Vorhabens herausstellen:
„Dieser König unternahm es, seinen Ägyptern eine neue Religion aufzudrängen, die ihren jahrtausendealten Traditionen und all ihren vertrauten Lebensgewohnheiten zuwiderlief. Es war ein strenger Monotheismus, der erste Versuch dieser Art in der Weltgeschichte, soweit unsere Kenntnis reicht, und mit dem Glauben an einen einzigen Gott wurde wie unvermeidlich die religiöse Intoleranz geboren, die dem Altertum vorher – und noch lange nachher – fremd geblieben.“61
Mit fast marxistischem Gestus bringt Freud diese Entwicklung mit der Ausbreitung des ägyptischen Reiches in Verbindung.
„Dieser Imperialismus spiegelte sich nun in der Religion als Universalismus und Monotheismus. Da die Fürsorge des Pharao jetzt außer Ägypten auch Nubien und Syrien umfaßte, mußte auch die Gottheit ihre nationale Beschränkung aufgeben, und wie der Pharao der einzige und unumschränkte Herrscher der dem Ägypter bekannten Welt war, so mußte wohl auch die neue Gottheit der Ägypter werden.“62
Freud fährt fort, Echnaton habe während seiner siebzehnjährigen Herrschaft (1375 bis 1358 v.Chr.)63 „etwas Neues hinzugebracht, wodurch die Lehre vom universellen Gott erst zum Monotheismus wurde, das Moment der Ausschließlichkeit.“64 Sogar die radikale Verwandlung des Sonnenkults von On schreibt Freud dem Wirken Echnatons zu:
„Amenhotep hat seinen Anschluß an den Sonnenkult von On niemals verleugnet. In zwei Hymnen an den Aton, die uns durch die Inschriften in den Felsgräbern erhalten geblieben sind und wahrscheinlich von ihm selbst gedichtet wurden, preist er die Sonne als Schöpfer und Erhalter alles Lebenden in und außerhalb Ägyptens mit einer Inbrunst, wie sie erst viele Jahrhunderte später in den Psalmen