sein, Eltern haben, die für ihn sorgen.
»Ich wasch mal ab«, sagt Gunda, tritt an die Spüle und dreht den Wasserhahn auf.
Hans steht auch auf, greift sich den halbzerfledderten Stern aus dem Altpapierkorb und sagt: »Wenn ihr jetzt mit Putzen anfangt, geh ich ins Bett. Ihr könnt mir ja was übriglassen.«
Welches Bett? Christian sieht auf Gundas Hände im Spülmittelschaum, denkt an ihre Knie im Badeschaum, fragt sich, ob er auch nach oben gehen soll, und in welchem Bett Renate liegt. Er würde gern ein Bad nehmen. Zu Hause nimmt er immer ein Bad, wenn ihm alles andere zu kompliziert ist, aber hier gibt es keine Wanne, hier gibt es nur eine Duschkabine, weil die Geschwister nichts übrig haben für warmes Badewasser und Taschenbuchkrimis, sondern ihre Körperpflege effektiv erledigen. Die Kinder sind im Sommer oft in die Kuhtränke vor dem Haus gestiegen, aber das tun sie inzwischen bestimmt nicht mehr. Lukas hat die Narbenhaut, und seine schwarzgekleidete Freundin hat nicht so ausgesehen, als ginge sie bei Sonne auch nur nach draußen.
Ein Sitzplatz an der Kuhtränke wäre schön, eine Eckbank wie hier am Feuer, um dem Wasser beim Überlaufen zusehen zu können. Das würde den Brennholzbedarf enorm reduzieren, wenn sie eine zweite Möglichkeit zum Starren hätten. Katrins Augen sind schon ganz glasig, aber das kann auch am Wein liegen.
»Ich fahr morgen weg«, sagt sie.
»Hör auf«, sagt Wolfgang, »das sagst du jedes Mal.«
Gunda fängt an abzutrocknen. Katrin steht auf und hilft beim Wegräumen. Christian gießt kochendes Wasser in die Kaffeekanne und löffelt Kaffee dazu.
»Falschrum«, sagt Katrin und hat Recht, das Pulver geht nicht unter, sondern liegt als Haufen oben auf. Christian gießt nach, die Kanne läuft über.
»Kommst du mit rauf?«, fragt Katrin Gunda. Die beiden hatten letzte Nacht das schöne Schlafzimmer zusammen.
Gunda nickt und hängt das Trockentuch auf. »Bis morgen«, sagt sie.
Das muss nicht heißen, dass sie wieder mit Katrin das Zimmer teilt. Zu Hause sagt Gunda auch »Bis morgen«, wenn sie als erste ins Bett geht. Im selben Bett zu schlafen, bedeutet bei ihnen nicht mehr zwangsläufig, beieinander zu sein. Jeder schläft und träumt für sich, um morgens die Augen aufzuschlagen und nachzusehen, ob der andere noch da ist. Vielleicht legt Katrin sich zu Hans, und jetzt liegen zwei Frauen allein da und warten, dass er zu ihnen kommt. Zum Glück gibt es Kaffee.
»Ihr seid schuld«, sagt Christian und setzt sich zu Wolfgang auf die Bank. »Du und Renate. Ihr seid die Anführer. Ihr seid verantwortlich für die Evolution.«
»Wie bitte?« Wolfgang schenkt Wein nach.
»Na, Stammesentwicklung. Fortpflanzung.«
»Ach, darum geht’s noch.«
»Ganz genau. Darum.«
Wolfgang stützt seinen großen Kopf in die Hände, die Ellbogen auf die Knie. Christian sieht, wie das Feuer sich in seinen Augäpfeln spiegelt. Er hat schöne Augen, sein Freund. Und große Hände. Den Ehering kriegt er bestimmt nicht mehr runter, aber wozu auch.
Wolfgang wiegt den Kopf. »Wie bei den Wölfen, meinst du.«
Christian zuckt die Schultern.
»Bei den Wölfen kann nur das Weibchen des Anführers überhaupt schwanger werden. Die andern Weibchen sind gar nicht fruchtbar, solang sie unterworfen sind.«
Christian nickt. »Genau«, sagt er, »genau das meine ich.«
»Na ja«, sagt Wolfgang, »die machen das dann aber auch.«
»Was?«
»Junge kriegen.«
Christian zuckt die Schultern.
»Trotzdem«, sagt er.
Wolfgang räkelt sich und legt noch mal nach. »Ich versteh nicht, warum das auf einmal wieder Thema sein soll. Ist doch längst zu spät.«
»Sicher«, sagt Christian. »Aber wer Schuld hat, kann man ja trotzdem feststellen.«
Das ist es. Wolfgang hat in diesem Falle versagt. Wolfgang war der einzige, der überhaupt die Chance gehabt hätte, Kinder zu zeugen. Und jetzt schlich seine Frau im Dunkeln herum und versuchte, ein neues Alpha-Männchen zu küren. Aber nicht mit ihm. Er könnte höchstens noch seinem eigenen Weibchen, das in die Fuchsfalle geraten ist, die verstümmelte Pfote lecken. Wahrscheinlich nicht mal das.
»Gute Nacht«, sagt er zu Wolfgang, der mit dem Schürhaken auf die Kaffeemaschine klopft.
»Nacht.«
Christian steigt im Dunkeln die Treppe hoch. Unter keiner der Türen ist noch Licht zu sehen. Wahrscheinlich haben sie es gemacht wie letzte Nacht, und sein Platz ist links bei Renate.
Er will nicht. Er kann sich nichts Absurderes vorstellen, als neben einem anderen Körper zu liegen, geschweige denn, einen solchen anzufassen. Warum das wohl jemals ging? Vielleicht, wenn er ganz flach atmet.
LEIDER NEIN
Dass jeden Tag etwas Spannendes und Lustiges passieren sollte, zumindest aber etwas überdurchschnittlich Angenehmes oder gänzlich Unverhofftes, ließ Sandra nervös werden. Bevor sie abends ins Bett ging, schaltete sie den Anrufbeantworter ein, falls sie im Schlaf das Telefonklingeln überhören sollte. Dieser Fall war noch nie eingetreten, Sandra war viel zu nervös, um nicht beim ersten Klingeln hellwach zu sein, trotzdem sah sie morgens als erstes nach, ob nicht die rote Lampe blinkte. Leider nein, aber es war auch noch früh. Ob der Hörer richtig aufgelegen hatte?
Sie zog sich an, was eine Weile dauerte, weil sie nicht wusste, ob sie sich hübsch machen sollte für das Unerwartete, oder ob sie die schönen Kleider lieber schonen sollte für den Tag, an dem es mit größerer Wahrscheinlichkeit geschah. Noch war es früh, noch scheute sich die Welt, bei Sandra anzurufen. Noch war die Post nicht gekommen. Noch war nicht klar, ob das Wetter sich halten würde.
Gegen Mittag ließ die Nervosität etwas nach. Claudia hatte angerufen, um Sandra zum Abendessen einzuladen. Das war nicht wirklich spannend, aber zumindest war das Telefon nicht kaputt. Die Post war gekommen, eine Urlaubskarte von Sven, was bedeutete, dass er sie noch nicht aus seinem Adressbüchlein gestrichen hatte. Der Himmel hatte sich bewölkt, sodass Baden nicht mehr infrage kam. Sandra ging zurück ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Alles in allem war der Sommer doch die übelste Jahreszeit. Warm zwar, bunt und duftend, aber deshalb auch drängelnd und in ständiger Erwartung begriffen.
»Na, was machst du draus?«, fragt die Sonne alle fünf Minuten, während sie scheint.
November war besser. Im November war das, was man tat, ein tapferes Trotzdem: trotz des Regens, trotz der Kälte, trotzdem es nicht richtig hell wurde im Zimmer. Leider war aber nicht November, sondern August, und im August musste nochmal doppelt so viel Schönes passieren. Wozu sonst war die Nacht so lau, der Teer so weich, das Wasser glitzrig und das Gras frisch gemäht?
Sandra war eine von denen, die nicht gelernt hatten, das Leben gelassen zu nehmen: Beruf, Liebe, Familie, Altwerden. Für Sandra schienen diese Dinge mit großen, eigenmächtigen Entscheidungen zusammenzuhängen.
»Willst du alt werden?«, fragt das Schicksal, und Sandra überlegt.
»Ich glaube, lieber nicht«, antwortet sie. »Alles wird anstrengend, weil der Körper kaputt geht und die Erinnerungen immer schöner werden. Alles wird dringend, weil das Leben bald vorbei ist, lässt sich aber nicht mehr verwirklichen, weil man dann früher eine andere Richtung hätte einschlagen müssen. Nein, ich denke, lieber nicht.«
Claudia war genauso. Bei jedem Abendessen bestätigten sich die beiden, wie sie die Kinder, die sie nicht hatten, auf keinen Fall nennen würden. Sven hatte schon mehrmals dabeigesessen und glasige Augen bekommen.
»Hanna, Laura, Sophia? Nein: Sophia-Charlotte. Und das zweite Charlotte-Sophie.«