sagte er sichtlich frustriert. »Sie werkelt gemächlich vor sich hin und gefährdet damit unsere Deadline. Und das nicht zum ersten Mal!«
Isabel war Projektmanagerin und Jons Kollegin. Umsichtig, intelligent und mit einem Blick für die größeren Zusammenhänge war sie ein wertvolles und verlässliches Mitglied unseres Unternehmens. Zudem schien sie immun gegenüber Jons Dringlichkeitswahn zu sein.
»Ich verstehe. Wie kann ich helfen?«
»Ich brauche jemanden wie dich, der mit ihr redet«, erwiderte Jon.« Ich bin nicht der Menschen-Typ.«
Bei Jons Erklärung, er sei kein »Menschen-Typ«, musste ich daran denken, dass wir nicht nur uns selbst, sondern auch die Menschen um uns herum durch eine Brille sehen. Und wie das bei Brillen nun mal so ist, stellen sie die Wirklichkeit entweder viel schärfer oder aber ziemlich verzerrt dar. Ich weiß, warum ich diesen Vergleich hier bringe. Denn ich habe diese Erfahrung selbst gemacht, als ich als Kind eine Brille bekam. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich als Zweitklässler zum ersten Mal eine Brille trug: Plötzlich konnte ich die Blätter an den Bäumen mehrerer Straßenblocks vor mir erkennen. Tausende weitere Details, die mir bislang komplett entgangen waren, wurden sichtbar. Auf einmal zeigte sich mir die ganze Welt in nie geahnter Klarheit.
Das Komische war, dass ich früher gar nichts vermisst hatte. Für mich hatte alles so ausgesehen, wie es aussehen sollte. Alles schien seine Richtigkeit zu haben. Kein Wunder, dass mir mein Kunstlehrer vorgeschlagen hatte, Buchhalter zu werden. Erst die Brille machte mir bewusst, was mir bislang alles entgangen war. Vielleicht denken Sie, ein paar zusätzliche Blätter an irgendwelchen Bäumen machen keinen großen Unterschied. Doch hier geht es um etwas wesentlich Grundsätzlicheres. Etwas, das der Philosoph Thomas Kuhn ganz wunderbar beschreibt: »Alle entscheidenden Durchbrüche gehen mit einem Bruch alter Denkweisen einher.« Oder anders ausgedrückt: Unsere Sicht der Dinge beeinflusst unser Denken und unser Fühlen. Das wirkt sich wiederum auf unser Tun und unsere Ergebnisse aus. Das zeigt auch die folgende Geschichte:
Vor etlichen Jahren beschloss ein Bekannter von mir, etwas für seine Figur zu tun und regelmäßig joggen zu gehen. Dieser Entschluss war für ihn aus zwei Gründen sehr wichtig: Erstens wollte er gesünder leben und zweitens wünschte er sich mehr Schwung und Energie, um für seine Familie da sein zu können. Zwei Tage lang hielt er durch. Doch am dritten Tag stolperte er und verstauchte sich das Sprunggelenk. Das war äußert schmerzvoll. An Joggen war erst mal nicht zu denken. Im Gegenteil: Die Verletzung brauchte mehrere Monate, um auszuheilen.
Als die Zeit gekommen war, die Krücken gegen die Joggingschuhe zu tauschen, konnte er sich allerdings nicht dazu entschließen. Er verzichtete aufs Joggen, obwohl es der Schlüssel zu einer gesünderen, verantwortungsvolleren Lebensweise war. Woran das lag? Mein Bekannter nahm die Welt durch eine Brille wahr, die ihm vorgaukelte, dass er kein sportlicher Typ und die Welt ohnehin voller Fallstricke sei. Diese Sichtweise beeinflusste sein Denken: Er glaubte, dass die Joggingidee von Anfang an ein großer Fehler gewesen war. Dieses Denken wiederum löste bestimmte Gefühle bei ihm aus: Er fühlte sich antriebslos und ängstlich. Und diese Gefühle beeinflussten sein Verhalten: Er wurde wieder zum Couchpotato. Die Ziele, die ihm so wichtig gewesen waren, waren schnell vergessen.
Wie wir uns selbst und die Welt um uns herum sehen, bezeichnen wir als Paradigma. Dieser Begriff ist mittlerweile stark verbreitet. Wahrscheinlich sind Sie beim Buzzword-Bingo-Spielen in der Meeting-Pause schon mal dem Wort »Paradigmenwechsel« begegnet. Was das genau bedeutet? Hier möchte ich gerne Dr. Covey zitieren:
Solange wir uns lediglich kleinere Veränderungen wünschen, genügt es, wenn wir an unserem Verhalten arbeiten. Wollen wir jedoch Veränderungen, die einem Quantensprung gleichkommen, müssen wir an unseren grundlegenden Paradigmen arbeiten.
Wenden wir uns wieder meinem Bekannten zu und schauen genauer hin, was hier passiert ist. Sein Sprunggelenk war wieder in Ordnung. Er hatte zwei funktionierende Beine und war in guter, wenn auch nicht in überragender gesundheitlicher Verfassung. Sein Arzt meinte, dass er wieder mit dem Joggen beginnen könnte – besser gesagt: sollte! Und im Schrank wartete ein fast neues Paar Laufschuhe darauf, endlich wieder getragen zu werden. Sicher, die Welt ist voller Stolpersteine. Aber er hätte nur die Augen offen halten und seine Schritte sorgfältiger setzen müssen. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn mein Bekannter seine »Brille« gegen eine hilfreichere eingetauscht hätte:
• Sehen: Ich bin in der Lage zu joggen und dabei den kleinen Hindernissen, die sich mir in den Weg stellen, auszuweichen.
• Denken: Ich kann, soll, will und werde wieder mit dem Joggen beginnen.
• Fühlen: Ich bin zuversichtlich, dass ich die Ziele, die mir so wichtig sind, erreichen kann.
• Tun: Ich hole die Schuhe aus dem Schrank und laufe einfach los.
Es genügt schon, dass wir beschließen, uns selbst durch eine andere Brille zu sehen. Allein dadurch lösen wir einen Dominoeffekt aus, der unser Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich beeinflusst. Hier haben wir es mit einem grundlegenden, universellen Prinzip zu tun. Es hilft uns, bedeutsame Veränderungen in unserem Leben anstoßen. Haben Sie auch immer wieder ein unzutreffendes Bild von sich selbst? Denken Sie beispielsweise:
• Ich gehöre nicht dazu.
• Ich bin zu faul.
• Ich habe keine Geduld.
• Ich werde niemals gut genug sein.
• Ich kann mich nicht ändern – ich bin, wie ich bin.
Auch von anderen und der Welt um uns herum machen wir uns oft ein falsches Bild:
• Alles hat sich gegen mich verschworen.
• Am Ende geht immer alles schief.
• Meine Bekannte ist total rücksichtslos.
• Mein Kollege weiß einfach nicht, was er tut.
• Auf andere ist eben kein Verlass.
• Meine Mitarbeiter werden sich nie ändern.
Auch für mich war das Joggen der Anlass, um mich einmal näher mit dem Bild, das ich von mir und anderen habe, zu befassen. Das hatte weitreichende Folgen für mich und für eine sehr wichtige Beziehung in meinem Leben. Bei meiner Vorliebe für Jogging-Geschichten muss ich an einen alten Witz denken: Woher wissen Sie, ob jemand an einem Marathon teilnimmt? Keine Sorge, er oder sie wird es Ihnen ganz bestimmt erzählen!
Vor einigen Jahren hatte meine Tochter Sydney ein Problem, das viele andere Jugendliche auch haben. Sie hatte einfach kein Selbstvertrauen. Erschwerend kam hinzu, dass sie schon sehr früh ihr Hörvermögen verloren hatte. Die Verständigung mit anderen machte ihr oft Mühe. Deshalb wurde sie häufig gehänselt. Zu dieser Zeit hatte ich gerade damit begonnen, regelmäßig zu joggen. Also überlegte ich, ob ihr die Teilnahme an einem Marathon vielleicht guttun würde. Ihr schien die Idee zu gefallen – und so starteten wir unser gemeinsames Trainingsprogramm. Doch ihr Eifer ließ ganz schnell nach. Das frühe Aufstehen und die große Anstrengung waren zu viel für sie, sodass sie keine Lust mehr hatte und resigniert die Segel strich. Meine erste Reaktion war Enttäuschung. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, war ich auch erleichtert. Denn jetzt konnte ich mich wieder auf mein eigenes Ziel konzentrieren: Ich wollte den Marathon unbedingt in weniger als vier Stunden schaffen.
Der Marathon kam. Doch ich verpasste mein Ziel. Und Sydney hatte weiter mit sich selbst zu kämpfen.
Im nächsten Jahr fragte ich sie, ob sie einen neuen Anlauf starten wollte. Sie war einverstanden – und wir beide legten wieder los. Diesmal hielt Sydney etwas länger durch. Aber als es morgens immer kälter wurde, schmiss sie wieder das Handtuch. Auch dieses Mal war ich enttäuscht, konzentrierte mich dann aber intensiv auf mein Training. Der Marathon kam. Doch ich verpasste wieder mein Ziel. Und Sydney hatte noch immer mit sich selbst zu kämpfen.