Todd Davis

Werde besser!


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passiert war. Offensichtlich führten meine guten Absichten allein nicht zum Ziel. Ich dachte intensiv über meine Tochter nach. Mir wurde klar, wie stark sie in Wahrheit war. Im Zusammenhang mit ihrem Gehörverlust hatte sie Hindernisse gemeistert, die mir selbst absolut unüberwindlich erschienen. Sydney zeichnet sich durch eine geradezu unglaubliche Kombination aus Stärke und Beharrlichkeit aus. Das Problem lag also nicht bei ihr. Es lag an mir! Ich hatte meiner Tochter nicht wirklich zugetraut, den Marathon zu meistern. Und das hatte sich auf unser Training ausgewirkt. Um ein Beispiel zu nennen: Weil sie langsamer war als ich, lief ich oft um sie herum. Ja, wirklich, ich lief um sie herum! Heute schäme ich mich dafür. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie entmutigend es sein muss, jemanden neben sich zu haben, der jeden Morgen im Kreis um einen herumrennt. Ich bin sicher, dass Sydney das Gefühl hatte, mich nur aufzuhalten. Deshalb fiel ihr das Aufhören auch so leicht. Sie wollte mir nicht im Weg stehen!

      Dennoch gab ich nicht auf. Ich frage Sydney zum dritten Mal, ob sie am Marathon teilnehmen wolle. Dabei betonte ich, dass ich fest daran glaubte, dass sie es schaffen würde. Und diesmal war meine Überzeugung echt! Das übertrug sich auf Sydney. Sie begann, an sich zu glauben. Wir starteten wieder mit dem Training. Doch jetzt konzentrierte ich mich voll und ganz auf meine Tochter. Beispielsweise trug ich die Wasserflaschen für uns beide oder ich lief mit etwas Abstand hinter ihr her, damit sie das Tempo bestimmen konnte. Und dieses Mal gab Sydney nicht auf. Allein das war schon ein großer Erfolg. Allerdings wusste ich, dass noch viel mehr möglich war: Ich war sicher, dass meinen Tochter die innere Stärke hatte, nicht nur an den Start zu gehen, sondern es auch bis ins Ziel zu schaffen.

      Der Marathon kam – und ich war felsenfest davon überzeugt, dass Sydney die Ziellinie überqueren würde. Doch ich hatte eine große Sorge. Ich hatte Angst, dass wir das Ziel erst erreichen würden, nachdem die Ballons schon abgenommen worden waren und die Zuschauer bereits wieder nach Hause gegangen waren. In Anbetracht unserer letzten Trainingsläufe nahm ich an, dass wir ungefähr bei fünfeinhalb Stunden landen würden. Wenn wir uns mächtig ins Zeug legten, vielleicht auch bei fünf Stunden und 20 Minuten …

      Der Startschuss fiel und wir liefen los. Ich kann mich noch erinnern, dass ich bei der 25-Kilometer-Marke zu Sydney sagte, der Marathon verginge zu schnell. Sie schaute mich an, als ob ich verrückt sei. Wo hat sich schon einmal ein Marathonläufer darüber beschwert, dass das Rennen zu schnell vorbei ist? Aber genau das war mein Gefühl. Es machte mir einfach eine riesengroße Freude, zu sehen, wie Sydney dieses unglaubliche Ziel erreichte. Wir überquerten die Ziellinie, lange bevor die Ballons abgenommen wurden – mit einer Zeit von vier Stunden und 23 Minuten. Wir waren überglücklich. Sydney fühlte sich wie auf dem Gipfel der Welt. Diesen Moment werde ich niemals vergessen. Der Zieleinlauf bei meinem ersten Marathon war eine aufregende Sache. Aber es war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, gemeinsam mit meiner Tochter ihre erste Ziellinie zu überqueren. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn ich Sydney weiterhin durch die falsche Brille gesehen hätte!

      Und so bewährte sich die Strategie »Schau durch die richtige Brille« für mich im Zusammenhang mit meiner Tochter:

      • Sehen: Ich beschloss, in Sydney jemanden zu sehen, der die Stärke und die Fähigkeit hatte, den Marathon bis zum Ende zu laufen.

      • Denken: Ich veränderte meine Trainingsstrategie dahingehend, dass ich mich voll und ganz auf meine Tochter konzentrierte.

      • Fühlen: Ich war überzeugt, dass sie es schaffen würde. Und ich wusste, dass sie diese Zuversicht spürte.

      • Tun: Wir trainierten so, dass wir die Ziellinie am Ende gemeinsam überqueren konnten.

      Immer, wenn ich an den Marathon mit meiner Tochter und die erste Strategie aus diesem Buch denke, kommen mir die Worte in den Sinn, die angeblich in den Grabstein eines anglikanischen Bischoffs in der Westminster Abbey gemeißelt sind:

      Als ich jung und frei und meine Fantasie grenzenlos war, träumte ich davon, die Welt zu verändern.

      Als ich älter und weiser wurde, verstand ich, dass ich die Welt nicht verändern konnte. So engte ich meinen Blick ein wenig ein und beschloss, nur noch mein Land zu verändern.

      Aber auch mein Land, so schien mir bald, konnte ich nicht verändern.

      Als ich in die Jahre kam, beschloss ich in einem letzten verzweifelten Anlauf, meine Familie und die Menschen in meinen engsten Umkreis zu verändern. Aber, oh weh! Auch das war mir nicht möglich.

      Und jetzt, wo ich auf dem Sterbebett liege, wird mir schlagartig klar: Hätte ich nur mich selbst zuerst verändert, so hätte ich mit meinem Beispiel meine Familie verändert. Mit ihrer Inspiration und Ermutigung wäre ich in der Lage gewesen, mein Land zu verändern. Und, wer weiß, vielleicht hätte ich sogar die Welt verändert!

      Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir durch die sichtverzerrende Brille schauen, die wir allzu oft aufhaben. Die gute Nachricht lautet: Wir haben die Wahl, diese Brille gegen eine bessere einzutauschen. Und das gilt natürlich auch für meinen Kollegen Jon.

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       »Ich brauche jemanden wie dich, der mit ihr redet«, erwiderte Jon. »Ich bin nicht der Menschen-Typ.«

       Und da war es: Die so sehr verbreitete Vorstellung, dass wir nun einmal sind, wie wir sind, und uns nicht ändern können. Mir war klar, dass Jon in mein Büro kam, um mich als Verbündeten zu gewinnen, der ein ernstes Wörtchen mit Isabel reden sollte. Aber ich spürte, dass sich dahinter noch etwas wesentlich Wichtigeres verbarg. Also fragte ich ihn: »Jon, sag mir, warum glaubst du das?«

      »Warum ich was glaube?«

       »Dass du nicht der Menschen-Typ bist.«

       Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass das nicht die Antwort war, die er erwartet hatte. Er räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Na ja, du weißt schon …«

       Ich ließ nicht locker: »Was genau weiß ich?«

       Jon seufzte: »Sieh mal, ich bin jemand, dem Ergebnisse wichtig sind.« Das war eine Litanei, die ich schon unzählige Male von ihm gehört hatte. »Ich will vorwärtskommen und Ziele erreichen. Damit schrecke ich manche Leute ab. Ich habe einfach kein Talent für Soft Skills und das Zwischenmenschliche.«

      »Sag mal: Wie lange bist du jetzt schon verheiratet?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort sehr genau kannte.

       »19 Jahre.«

       Ich wusste, dass Jon ein wunderbarer Ehemann und Vater war. Deshalb nahm ich ihm seine Selbsteinschätzung nicht ab und sagte: »Das klingt, als ob dir die zwischenmenschlichen Dinge doch nicht so fremd wären.«

       Jon wollte schon widersprechen. Aber dann hielt er inne. Ich denke, er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht einfach die Segel streichen würde. Also hob er die Hände und ließ sich tief in den Sessel sinken. »Okay. Gut. Ich ergebe mich!«

       »Sagen wir also, dass du in Wahrheit sehr wohl der Menschen-Typ bist«, fuhr ich fort. »Wie würdest du dann die Situation mit Isabel regeln?«

       »Also, vermutlich sollte ich nicht mit dir, sondern mit ihr reden.«

       Ich nickte. »Mir gefällt das mit dem Reden, weil es hier um gegenseitigen Respekt und gemeinsame Ziele geht. Ich stelle mir vor, dass ihr beide, Isabel und du, dasselbe wollt. Mein Vorschlag lautet, dass du dich von der Vorstellung verabschiedest, du wärst kein Menschen-Typ, und stattdessen ein konstruktives Gespräch mit deiner Kollegin führst. Vielleicht solltest du auch dein Bild von Isabel überdenken.«

       »Wie meinst du das?«

       »Nun, es fällt mir schwer zu glauben, dass Isabel die Einhaltung des Termins nicht genauso wichtig ist wie dir.«