Ralph Goldschmidt

Shake your Life


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… und dann wörtlich: »Nur schade, dass ich keine Chance hatte, meinen Vater wirklich kennenzulernen, denn er hatte ja nie Zeit.«

      Ich sage Ihnen, ich habe Rotz und Wasser geheult, musste die Übung sofort abbrechen. Meine Güte, das brach nur so aus mir raus. Und wenn dich so etwas dermaßen ankickt, dann hat das was zu sagen.

      Zu dieser Zeit war ich nämlich mitten in der Firmengründung, hatte tausend Sachen um die Ohren, habe gerödelt ohne Ende, um das Unternehmen ans Laufen zu bekommen, machte mein Ding. Und habe dabei voller Schwung mein Wertesystem auf den Kopf gestellt, denn meine Kinder kamen in diesem Spiel nicht vor. Wäre ich damals tatsächlich gestorben, hätte auf meinem Grabstein stehen können: Er gab alles für die Arbeit – und nichts für den Rest.

      Nach diesem Seminar habe ich zwar mein Leben nicht radikal umgestellt, aber mir war klar, ich brauchte mehr Zeit für meine Jungs, ich musste die Balance anders gestalten. Und das habe ich bis heute durchgehalten. Auch als ich dann pleite war, die Beziehung zu meiner Frau kaputt, die Firma kaputt und auch die Beziehung zu meiner Bank einen irreparablen Schaden erlitten hatte, bin ich klar geblieben. Ich bin mit geliehenem Geld fünfmal im Jahr nach Brasilien geflogen, wo meine Ex und meine Kinder zu der Zeit lebten. Ich habe mich schwer überwinden müssen, Freunde um Geld anzupumpen, das kann ich Ihnen verraten. Dieser Stolz, niemandem auf der Tasche zu liegen, stand auf meiner Werteskala zwar weit oben, aber nicht so weit oben wie meine Kinder. Zur Not hätte ich Gesetze gebrochen, wäre nach Brasilien als blinder Passagier auf einem Frachter mitgefahren, nur um meine Jungs zu sehen.

      Aus den Werten folgen die Gedanken und aus den Gedanken die Handlungen. Wenn Victor mit seiner Frau nicht Tacheles redet über das, was ihn umtreibt, wenn er sich scheut, bei seinen Kindern zu sein, wenn er im Job gute Miene zum bösen Spiel macht, dann nicht deshalb, weil er ein gefühlloses Arschloch ist, sondern weil er nicht weiß, wie sein Wertesystem funktioniert. Oder anders gesagt: Er weiß nicht, was ihm wirklich wichtig ist. Oder nochmal anders gesagt: Ihm ist nicht bewusst, wer er eigentlich ist. Er hat kein Bewusstsein für sein Selbst. Er hat kein Selbstbewusstsein.

      Wenn Sie meinen, dass er gar nicht so wirkt, als hätte er kein Selbstbewusstsein, dann müssen Sie noch mal genauer hinschauen: Victor vermittelt zwar glaubhaft den Eindruck, als habe er großes Selbstvertrauen – er kommt so tough rüber, ist deshalb so erfolgreich im Job und deshalb finden ihn die Frauen auch so attraktiv. Er hat großes Vertrauen in seine beruflichen Fähigkeiten, was auch der Grund ist, warum ihm seine Frau vertraut: Sie ist sich sicher, dass er auch künftig beruflich erfolgreich sein wird und jede Menge Schotter nach Hause bringen wird. Bei so viel Selbstvertrauen! Aber er hat eben kein Selbstbewusstsein, er weiß zwar, dass er verdammt gut ist, aber er weiß nicht, wofür in seinem Leben er seine Fähigkeiten eigentlich einsetzen soll. Er hat kein Bewusstsein für seine wahren Prioritäten.

      Konfrontiert er seine Frau mit seinem Wunsch nach Jobwechsel und zieht er das wirklich durch, dann zieht sie vielleicht nicht mit um, und dann muss er womöglich eine Wochenendehe riskieren. Ist es ihm das wert? Wenn er einen »sauberen« Job anfängt, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit erst mal ein niedrigeres Gehalt akzeptieren müssen. Nicht dass er in Armut versinken müsste, aber Kitzbühel und Robinson-Club, Reiten und Porsche würde eben nicht mehr alles auf einmal gehen, er und seine Familie müssten Abstriche machen. Zum ersten Mal in seinem Leben ginge es nicht mehr straight bergauf. Wäre es ihm das wert? Und was würden die Nachbarn und der Bekanntenkreis sagen? Vielleicht gäbe es ein paar Leute in seinem Umfeld, die sich diebisch freuen würden, wenn seine Karriere einen Knick bekäme. Würde ihm das wirklich nichts ausmachen?

      Vielleicht würde es ja auch ganz anders laufen und seine Ehe bekäme durch seine neue Aufrichtigkeit einen ganz neuen Kick. Vielleicht würde das die eingerostete Liebe wieder aufmöbeln, weil seine Frau stolz auf ihn wäre – zumindest nachdem sie die Ernteeinbußen auf dem Statusfeld verkraftet hätte. Wer weiß? Und vielleicht würde er einen ganz neuen Draht zu seinen Kindern bekommen, wenn er seine ausufernden Arbeitszeiten besser eindämmen könnte. Vielleicht. Könnte sein. Würde, hätte, sollte.

      Der Punkt ist, er wird es nicht im Voraus erfahren, wie sein Leben laufen wird. Er kann bei seinen Entscheidungen nicht auf deren Folgen spekulieren. Er muss sie mit großer Sicherheit treffen, ganz egal, was am Ende dabei herauskommt. Und solange er nicht weiß, was ihm wie viel wert ist im Leben, kann er das nicht.

      Einen Monat lang

      sehe ich ihn nicht. Dann sitzt er eines Abends plötzlich wieder da. Derselbe Barhocker, ganz links am Tresen. Aber er sieht ganz schön fertig aus. Ich sehe ihn zum ersten Mal ohne Business-Anzug. Er trägt ein blaues Hemd und eine ultracoole Cavalli-Jacke. Dunkle Schatten unter den Augen.

      Ich mixe ihm einen Double Vision, verschütte beim Eingießen vor lauter Schwung mal wieder einen kleinen Schwall, wische Glas und Arbeitsfläche ab, stelle den Drink vor ihm auf den Tresen, schaue ihm in die Augen. »Na, siehst du langsam klar? Ich sehe, dir geht’s besser!«

      »Machst du Witze? Ich fühle mich wie ausgekotzt!«

      »Trink, Bruder, trink.«

      Heute ist gut was los in der Jangada Bar. Wenn er länger bleibt, können wir später vielleicht noch quatschen. Ich bin natürlich neugierig, was sich bei ihm getan hat. Während ich rühre, schüttle, stelle, lege, schneide, drücke und verschütte, mustere ich ihn verstohlen: Ja, es sieht gut aus. Er ist weichgeklopft. Ich klicke meine Lieblingsmusik auf dem Rechner an. Später frage ich ihn, ob ich ihm was erzählen darf.

      Er wirft den Strohhalm, an dem er rumgezupft hat, auf den Tresen neben sein Cocktailglas. »Wieder eine von deinen therapeutischen Geschichten, was?«

      »Ja, genau. Du sollst nicht umsonst gekommen sein.« Ich lache, er nur halb. »Schau her, tagsüber mache ich ja bisweilen ganz andere Sachen als das hier«, ich umfasse meine Bar mit einer weiten Geste. »Da mache ich so Sachen, dass ich Leuten gegen viel Geld auf den Sack gehe. Ist eine wundervolle Aufgabe. Beispielsweise gebe ich ihnen sechs kleine Zettel und einen großen. Ich bitte sie, all ihre Werte auf den großen Zettel zu schreiben. Zur Inspiration werfe ich ein paar Tonnen Werte an die Wand: Reichtum, Macht, Liebe, Einfluss, Anerkennung, Familie, Kinder, Abenteuer, Freiheit und so weiter. Dann bitte ich die Leute, auf ihrem vollgeschriebenen Blatt sechs Kreuzchen zu verteilen und so die sechs Werte rauszupicken, die ihnen am wichtigsten sind. Diese sechs zentralen Werte müssen sie dann auf die sechs Zettelchen schreiben. Und dann noch mal überprüfen: Sind das wirklich Endwerte, also Werte, die eine echte Basis bilden, oder sind es ›Mittel-zum-Zweck-Werte‹, die dazu da sind, höher eingestufte Endwerte zu erreichen.

      Reichtum, Macht, Liebe, Einfluss, Anerkennung, Familie, Kinder, Abenteuer, Freiheit.

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      Beispiel: Ist Reichtum für diesen Menschen wirklich ein Wert an sich? Oder ist Reichtum dazu da, Macht oder Einfluss oder Anerkennung zu bekommen? Oder gar, sich Liebe zu erkaufen?

      Anderes Beispiel: Familie. Für manche ein Wert an sich, für andere eine Möglichkeit, Nähe und Geborgenheit zu erfahren. Klar?«

      Victor nickt nervös. Er will mehr hören.

      »Gut, schon das ist für manche ein hartes Stück Brot. Aber dann geht es weiter. Wir machen eine Gedankenreise. Ich lade die Leute zu einer Kreuzfahrt ein. Sie sollen sich vorstellen, wo sie hinfahren wollen und wen sie mitnehmen wollen.«

      »Ach, so ein Wunschziel-Spielchen, was? Habe ich auch schon mal gemacht. Kenn ich.« Victor winkt ab.

      »Mein lieber Victor. Die Kenn-ich-Masche ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mit meiner Geschichte bei dir genau ins Schwarze treffe. Das ist ein Widerstand, allerdings nur ein schwacher. Glaub mir, du kennst es nicht, sonst würdest du nicht so im Nebel deines Lebens rumstochern und hättest vor Wochen bei mir keinen Double Vision bestellt. Einverstanden?«

      »Okayokay, mach schon weiter.«

      »Gut. Wir sind im Hafen, es ist Abreisetag, das Wetter ist super, die Gäste und die Crew sind nett, das Schiff ist ein Traumschiff, alles super.