Andreas Buhr

Vertrieb geht heute anders


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bestimmen zunehmend den Handel

      Und wieder habe ich das Gefühl, dass die Zeiten sich drehen. Dass die Marktmacht sich abermals verlagern wird – und zwar auf die Seite des Algorithmus. Algorithmen und selbstlernende Systeme (Deep Learning, Künstliche Intelligenz) stecken hinter den Schlagworten wie IoT – das Internet der Dinge –, hinter automatisiertem Verkauf und automatisiertem Procurement, hinter Voice Commerce, hinter Chatbots, hinter Shopping-Apps im Auto, hinter Microservices, hinter Dynamic Pricing und Repricern, hinter Data Mining, hinter Predictions (Predictive Analysis), hinter Bild- und Mustererkennung für Retargeting und Remarketing, hinter Digital Signage, hinter Electronic Shelf Labels, hinter elektronischen Smart Shops, hinter intelligenten Wallets, hinter Mobile Payment – so viele neue Entwicklungen wälzen den Vertrieb und Verkauf gerade auf allen Ebenen um. Es wird dazu sicher auch ein neues Buch von mir geben – aber mir war angesichts dieser obigen kurzen Aufzählung, die keineswegs nur ein klingendes »Buzzword-Bingo« ist, sondern die neue Lebenswirklichkeit von uns im Vertrieb stichwortartig zusammenfasst, wichtig, dass wir in dieser neuen Auflage von »Vertrieb geht heute anders« schon diskutieren, wohin die Reise geht. Dass wir thematisieren, wer die Marktmacht künftig in Händen – oder vielmehr in Apps und Algorithmen – halten wird. Momentan sieht es so aus, als ob es nicht der Kunde ist, denn er wird gerade all seiner Daten entkleidet, er wird Data-Mining-Material, Algorithmenfutter, er entmächtigt sich in Teilen selbst.

       Hintergrund: Etwas digitales Vokabular

      Digital Signage: Unter dieser »digitalen Beschilderung« werden (interaktive) Werbe- und Informationssysteme verstanden, die (z. B. im Groß- und Einzelhandel) Kunden direkt mit Medieninhalten und Werbung – meist cloudbasiert – adressieren und zum Kauf animieren.

      Electronic Shelf Sabels: Diese »elektronischen Regaletiketten« finden sich im Einzelhandel und liefern dem Kunden direkt am Produkt Zusatz- und Preisinformationen. Im Zusammenspiel mit Repricern – siehe nächstes Kapitel – können auf diese Weise Preise ähnlich wie im Online-Handel auch sekundengenau an Nachfrage und Lagermenge angepasst und ausgespielt werden.

      Procurement: Procurement oder Purchasing ist der englische Ausdruck für Beschaffung, also die Abteilung in (Kunden-)Unternehmen, die sich mit dem professionellen Einkauf und der Beschaffungslogistik von Rohmaterial, Zulieferung oder Handelsware beschäftigt. In diesem Buch geht es meist um Digital Procurement, also die Automatisierung solcher Beschaffungsprozesse unter Einsatz vieler der hier genannten Technologien, was neue Herausforderungen für Akquise und Vertrieb aufwirft.

      Und doch dürfen wir nie vergessen, dass es immer nur der Kunde ist, der Geld in unser Unternehmen bringt. Damit setzen wir ihn ins Zentrum dieses Buches, ins Zentrum aller Ideen und Strukturen im Vertrieb. Deshalb sprechen wir auch von Customer Centricity! Unsere gemeinsame Herausforderung: souverän bleiben und uns unterscheiden, Gestalter statt Opfer sein.

       Was du von diesem Buch erwarten darfst

      Die Frage der Macht- und Einflussverschiebungen in der Marktökonomie können wir in der vorliegenden Ausgabe noch nicht komplett beantworten, dafür verändern sich gerade zum jetzigen Zeitpunkt die genannten Systeme zu schnell. Wir befinden uns gewissermaßen gerade unter dem Türsturz zwischen zwei Räumen, zwei Paradigmen, und werden in den nächsten Jahren den großen Schritt nach vorne wagen (müssen). Die Tür wird aufgestoßen oder auffliegen, und es ist die Tür zu einem Raum, in dem es momentan brodelt. In dem wahre Alchemie passiert: die Transition des Handels und des Vertriebs in ein digital-gestütztes hochkomplexes Konstrukt, in dem immer mehr Vorgänge gemäß schnelllernender Systeme und ständig verfeinerter Algorithmen automatisiert ausgeführt werden. In dem die Grenzen von Verkauf (B2C) und Vertrieb (B2B), von Produktentwicklung und -entstehung, von Marketing und After Sales, von Service und nachhaltiger Weiter- oder Wiederverwendung miteinander verschmelzen. Vertrieb bedeutet dann schon längst nicht mehr nur, Waren an den Mann oder die Frau zu bringen. Sondern er reicht über den ganzen Prozess von der Produktentwicklung und der Markenführung über die Marktvorbereitung, den Verkauf, After-Sales bis hin zum nächsten Zyklus. Und auf der anderen Seite, der Kundenseite, reicht die Customer Journey genauso weit: Der Kunde verlässt uns nie mehr – oder besser: Wir verlassen den Kunden nie mehr. Wir dürfen es schlicht nicht.

      In der vorliegenden Auflage können wir gemeinsam nur einen kurzen Blick hinter diese Tür werfen. Wir im Vertrieb stehen an der Türschwelle, mit einem Fuß noch im analogen Raum der klassischen Unternehmen, mit der Hand erst am Türgriff, und fragen: »Wenn alles anders wird, was können wir dann noch wissen und umsetzen?« Denn das »Ende des Verkaufens« ist ja nicht das »Ende des Kaufens«. Gekauft wird immer. Die Frage ist nur, wer kauft wann und was bei wem? Und wie?« Sprechen wir drüber? Prima!

      Ganz herzlich, dein

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1. Kapitel

      Vor Kurzem war ich bei einem dieser neuen, coolen Start-up-Unternehmen eingeladen, um einen Impulsvortrag zu halten und eine Vorstandsrunde zu moderieren. Das läuft ja ganz gut, sage ich zu mir. Coole Zuhörer, gelöste Stimmung, witziges, loftiges Ambiente. Für das Ende der Veranstaltung habe ich noch ein paar Handouts für die Teilnehmer vorbereitet. Eine Routine bei uns. Das Interesse dafür ist zwar da, jedoch höre ich den Chef des Unternehmens sagen: »Andreas, mail doch die Key Points bitte durch, Papier können wir nicht mehr annehmen. Wir sind komplett digital. Papierkörbe gibt es schon seit Weihnachten nicht mehr bei uns«. Ein Grinsen! Bämm! Was kam ich mir oldschool vor. Tatsächlich hatten sie an Weihnachten gemeinsam die Papierkörbe verbrannt. Demonstrativ! Kein Papier mehr. Konsequenter Weg!

       Klassische Unternehmen versus Start-ups?

      Hast du auch das Gefühl, dass sich die klassischen Unternehmen immer mehr in die Rente des Vergessens verabschieden und wir es täglich mit neuen agilen Start-ups zu tun haben? Dass viele bekannte Unternehmen und Marken mit dem Rücken zur Wand kämpfen und gleichzeitig technologiegetriebene Neugründungen mit Investorengeldern in Milliardenhöhe ausgestattet werden? Eine neue Blase? So einfach ist es nicht. Aber es gibt auch keine andere einfache Antwort. Warum verschwinden die Dinosaurier der Wirtschaft vom Markt?

      Dank zahlreicher technischer Möglichkeiten, dank eines veränderten Verbraucherbewusstseins leben wir heute in einer Digital Economy, die wir bisher vielleicht noch liebevoll als »Social Economy« bezeichnet haben, weil für viele von uns »gefühlt« die soziale Interaktion mit anderen Menschen, Plattformnutzern, Kunden, Kollegen im Zentrum stand. (Daher nutzen wir hier auch kurz den Begriff »Social Economy«, obwohl dieser sich im eigentlichen Sinne mit der »sozialen Wirtschaft«, also dem 3. Sektor und dem Non-Profit-Bereich beschäftigt.) Doch müssen wir feststellen, dass der digitale Transformations-prozess eigentlich sehr viel stärker ist als der soziale Prozess, der auf dieser Plattform stattfindet. Lass es mich mal so sagen: Die Digitalisierung ist die eigentliche Disruption, auf dieser »Trägerfrequenz« läuft der soziale Kommunikationsprozess mit. Unbenommen: Darin nimmt der Kunde einen aktiven Part ein. Er beteiligt sich am Serviceprozess oder am Produktgestaltungsprozess, ermöglicht höhere Effektivität und damit Effizienz. Der Kunde als wichtiger Bestandteil des Innovationsprozesses – das war früher undenkbar. Heute fordert er als solcher mehr Aufmerksamkeit, mehr Wertschätzung.

       Digital Economy gleich »Social Economy«? Schneller, globaler, erbarmungsloser

      Mit der Digital und Social Economy hat eine neue Ära begonnen. Vorbei ist die Zeit, in der Kunden sich gedulden mussten, Wochen, manchmal Monate darauf gewartet haben, dass ihr Pkw, ihre Küche, ihr Sofa lieferbar ist. In der sie Kompromisse