Margot Neger

Epistolare Narrationen


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das narrative Potenzial von Briefen und Briefsammlungen anhand einer Analyse von metaliterarischen Reflexionen antiker Briefschreiber, insbesondere Plinius selbst. Inwiefern lässt sich bei Plinius ein Bewusstsein für die erzähltechnischen Möglichkeiten als Epistolograph sowie das Verhältnis der Gattung zu anderen narrativen Genres erkennen? In Kapitel I.2 schließen sich dann Überlegungen darüber an, inwieweit mit Hilfe von in der modernen Erzähltheorie entwickelten Kategorien die Narrativität der Pliniusbriefe erfasst werden kann. Der Fokus richtet sich hier auf die narratologischen Kategorien der Stimme (I.2.1), Zeit (I.2.2), Raumkonstruktion (I.2.3) und der im Briefkorpus auftretenden Figuren (I.2.4). Es wird in diesem Rahmen gezeigt, dass narratologische Ansätze für die Analyse einer Briefsammlung durchaus ertragreich sind, jedoch den Konventionen der Gattung entsprechend adaptiert werden müssen. Auf die Entwicklung theoretischer Grundlagen in Teil I folgt mit Teil II eine Untersuchung ausgewählter Briefe und Briefgruppen, an denen sich die vielfältigen narrativen Verfahren des jüngeren Plinius besonders gut veranschaulichen lassen und in denen wir zentralen Themenfeldern der Sammlung begegnen. Seine Fähigkeiten als Erzähler demonstriert Plinius etwa in den zahlreichen Briefen über seine Auftritte als Redner und Anwalt im Senat oder Zentumviralgericht, wo er entweder rückblickend oder im Rahmen von simultanen Narrationen, teilweise über mehrere Bücher hinweg, verschiedene Verhandlungen unter Domitian, Nerva und Trajan schildert. Diese vergleichsweise große Gruppe von Briefen wurde bisher selten in ihrer Gesamtheit analysiert, und daher widmet sich Kap. II.1. den Narrationen über rhetorische Performanz am Schauplatz Gericht. Plinius als öffentliche Figur und Mitglied der Senatsaristokratie steht auch im Zentrum des Kapitels II.2, das sich mit drei Briefpaaren befasst, die kleine „Briefromane“ bilden und von einer geheimen Abstimmung im Senat durch Stimmtäfelchen sowie der Lektüre und Diskussion von Grabinschriften handeln. Als Gegenstück zu den in Kap. II.1 untersuchten Narrationen über Plinius als Redner und Advokat lässt sich der Zyklus jener Briefe lesen, in dem sich Plinius als Dichter präsentiert und seine Biographie als Poet konstruiert, wie in Kap. II.3 herausgearbeitet wird. Neben seiner Rolle als Redner, Anwalt und Freizeitdichter begegnet uns Plinius schließlich in mehreren Briefen als Amateurwissenschaftler und Paradoxograph, wenn er verschiedene mirabilia wie Naturphänomene, Visionen oder Begegnungen mit Geistern schildert – diesem Themenfeld ist Kap. II.4 gewidmet.29

I Die Narrativität der Briefe

      1 Narrare in der antiken Epistolographie – epistolary narratives

      In seiner Studie zur antiken Brieftopik hat Thraede (1970) herausgearbeitet,1 dass Autoren wie Cicero mindestens zwei Funktionen privater Korrespondenz unterscheiden: Neben der verbreiteten Vorstellung, dass Briefe ein Gespräch ersetzen sollen2 und demnach dem loqui bzw. iocari zwischen den räumlich getrennten Partnern dienen, spielt natürlich auch das Übermitteln von Nachrichten bzw. Erzählen von Ereignissen (narrare) eine bedeutende Rolle.3 So beklagt Cicero in einem Brief an Atticus etwa (5,5,1)CiceroAtt. 5.5.1, dass er keinen Stoff zum Schreiben habe, da er weder Aufträge für seinen Adressaten habe (nec quod mandem habeo), noch zum Scherzen aufgelegt sei (nec iocandi locus est), noch irgendwelche Neuigkeiten berichten könne (nec, quod narrem – novi enim nihil est).4 In einem Brief an Curio wiederum (Fam. 2,4,1)CiceroFam. 2.4.1 stellt Cicero fest, dass es viele Arten von Briefen gebe (epistularum genera multa esse), und insbesondere eine Notwendigkeit die Epistolographie sozusagen begründet habe, nämlich das Benachrichtigen von Abwesenden (unum illud certissimum, cuius causa inventa res ipsa est, ut certiores faceremus absentis).5 Abgesehen von derartigen theoretischen Reflexionen ist auch ein Blick auf Ciceros narrative Praxis erhellend: Hutchinson (1998) widmet in seiner Studie zu Ciceros Briefen ein Kapitel dem Thema „Narrative“6 und weist darauf hin, dass Ciceros Korrespondenz sowohl „many arresting examples“ als auch „extremely different kinds of narrative“7 enthält, wie anschließend im Rahmen eines close readings ausgewählter Textbeispiele8 illustriert wird. Die von Hutchinson analysierten Briefe zeichnen sich allesamt durch eine große stilistische Bandbreite sowie bewusste narrative Gestaltung aus, und am Ende lautet das Fazit: „In all the letters the narrators assume stances, and put on costumes.“9 Die Art und Weise der Narration ist demnach eng mit dem kommunikativen Rahmen verbunden: Je nach Adressat und Thema nehmen Cicero und seine Briefpartner unterschiedliche Erzählhaltungen ein, um ein bestimmtes kommunikatives Ziel zu erreichen.10 Anders als Hutchinson, der sich für Ciceros literarische Strategien interessiert, geht Drecoll (2006) der Frage nach, inwieweit Privatbriefe in der Antike als Nachrichtenmedien aufgefasst wurden und insbesondere für die Übermittlung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Neuigkeiten dienten. In seiner Monographie untersucht er die betreffenden Texte primär auf ihren Inhalt hin als historische Quellen und beanstandet an Studien wie derjenigen Hutchinsons, dass sie den Aspekt des Nachrichtentransportes zu wenig berücksichtigen.11

      Was die Privatkorrespondenz antiker Autoren betrifft, gibt es noch vergleichsweise wenige Studien, in denen narrative Strategien, sei es in einzelnen Briefen, Zyklen oder Briefbüchern, untersucht werden. Analysen der philosophischen Briefe Senecas an Lucilius richten ihr Interesse mittlerweile verstärkt auf die Anordnung der Briefe und Komposition der Briefbücher, wobei sich eine serielle Lektüre als besonders fruchtbar erweist. Wilson (2001) bringt hier das Konzept der „serial epistolography“ ins Spiel, das er in Bezug setzt zum Begriff der Erzählung („narrative“):

      „Individual Senecan epistles are not narrative in form. Nor does the collection, even when read sequentially, construct a narrative in the usual sense of the word, since there is no narrator, little physical action, and it is punctuated by continual interruptions of continuity. Yet reading the Epistles is analogous in some respects to what one experiences in reading an epistolary novel…The underlying narrative scheme is one of moral and intellectual progress. Seneca’s self-description as a proficiens rather than a sapiens…implies movement, change, development.“12

      Wenngleich einzelne Briefe Senecas – im Unterschied zu denjenigen des Plinius – kaum narrative Elemente beinhalten und sich stärker durch philosophische Reflexion als erzählerische Darstellung auszeichnen, bilden sie in ihrer Gesamtheit dennoch die Entwicklung eines Charakters nach, die der Leser bei sequenzieller Lektüre nachvollziehen kann. Ähnlich wie die Briefe Ciceros und Senecas sind auch die Versepisteln des Horaz und die Exilbriefe Ovids noch wenig aus narratologischer Perspektive untersucht worden.13 Im Gegensatz dazu haben Briefsammlungen, die deutlicher als fiktive Korrespondenz markiert sind, in dieser Hinsicht mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Insbesondere zu nennen sind hier Ovids Heroides, in denen Themen und Motive, die v.a. in der Epik und im Drama beheimatet sind, kunstvoll in einem epistolaren Rahmen variiert werden.14 Auch die griechische fiktionale und pseudonyme Epistolographie, die durch Bentleys Nachweis der Unechtheit zahlreicher Briefe15 lange Zeit von der Forschung vernachlässigt wurde, erfreut sich seit einiger Zeit wieder eines gesteigerten Interesses. Spätestens durch den von Holzberg herausgegebenen Band zum griechischen Briefroman (1994a) wurde eine intensivere Beschäftigung mit diesen Texten angeregt, wie etwa in dem von Hodkinson, Rosenmeyer und Bracke edierten Sammelband mit dem Titel Epistolary Narratives in Ancient Greek Literature (2013), der verschiedene Beiträge zu in längere Erzählungen eingelegten Briefen, fiktionalen bzw. pseudonymen Briefen sowie zum Briefroman vereint. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht unerheblich, dass viele dieser griechischen Briefkorpora, die sich als Werke berühmter Persönlichkeiten ausgeben, in der frühen Kaiserzeit (1./2. Jh. n. Chr.) und damit etwa gleichzeitig mit den Privatbriefen des Jüngeren Plinius entstanden sein dürften bzw. erweitert wurden.16 Offenbar gab es in dieser Epoche ein verstärktes Interesse an der Konstruktion von personae und Charakteren insbesondere im epistolaren Medium. Wenngleich die Plinius-Briefe natürlich nicht zu dieser Form fiktiver Korrespondenz gehören, dürfte es nicht abwegig sein, in den Strategien der Selbstdarstellung des Epistolographen aus Comum Berührungspunkte mit Ethopoiie und Pseudepigraphie in zeitgenössischen Briefsammlungen zu suchen. So spielen sowohl in den pseudepigraphen bzw. fiktiven Briefen als auch bei Plinius (auto-)biographische Elemente eine wichtige Rolle. Darüber hinaus entwickelt sich in der griechischen Epistolographie der Kaiserzeit auch eine Form, die Hodkinson und Rosenmeyer als „self-contained short stories“ bzw. „prose miniature“ bezeichnen und mit den literarischen Trends der Zweiten Sophistik in Verbindung bringen.17 Derartige epistolare Kurzgeschichten