Margot Neger

Epistolare Narrationen


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9,33), den Erzählungen über Arria (3,16), die Vestalin Cornelia (4,11), spektakuläre Selbstmorde (1,12; 6,24) oder auch einige Prozesse (1,5; 9,13) und an vielen anderen Stellen. Auch weniger handlungsintensive und stärker ekphrastische Briefe wie etwa die Villenbeschreibungen (2,17; 5,6) oder Schilderungen von Naturphänomenen (4,30; 8,8; 8,20) lassen sich hier anführen. Alle diese Formen bieten dem Briefschreiber die Möglichkeit, sein erzähltechnisches Können zu entfalten.

      Was das narrative Potenzial der Epistolographie betrifft, bilden nicht nur einzelne Briefe einen geeigneten Gegenstand der Analyse, sondern auch ganze Briefsammlungen und deren Anordnungsprinzipien. So belegt bereits eine Bemerkung des Cornelius Nepos in seiner Atticus-Vita, dass die ihm zugänglichen Briefe Ciceros an Atticus wie ein zusammenhängender Abriss von Zeitgeschichte gelesen werden können (Att. 16,3)Nepos, CorneliusAtt. 16.3:

       ei rei sunt indicio praeter eos libros, in quibus de eo facit mentionem, qui in vulgus sunt editi, undecim volumina epistularum ab consulatu eius usque ad extremum tempus ad Atticum missarum; quae qui legat, non multum desideret historiam contextam eorum temporum.

      Für die enge Freundschaft zwischen Atticus und Cicero führt Nepos als Belege sowohl jene publizierten Bücher Ciceros an, in denen Atticus erwähnt wird,19 als auch ein Korpus von elf Briefbüchern,20 deren Inhalt sich als eine historia contexta des betreffenden Zeitraums von Ciceros Konsulat bis zu seinem Lebensende lesen lasse. Mit dem Begriff indicium ist der Aspekt der Authentizität von Briefen, die dem Biographen als Dokumente dienen können, angedeutet. Neben der Funktion der Freundschaftsbildung bzw. -pflege verweist Nepos in der zitierten Passage auch auf das narrative Potenzial der Briefsammlung.21 Wie weiter unten genauer ausgeführt werden soll, rekurriert Plinius in seiner ersten Epistel (1,1)Plinius der JüngereEpist. 1.1 auf diesen Abschnitt der Atticus-Vita, wenn er die Organisationsprinzipien seiner eigenen Briefsammlung darlegt.22 Nach Nepos werden Ciceros Briefe an Atticus dann wieder bei Seneca erwähnt, der sich in Epist. 118Seneca der JüngereEpist. 118.1‒2 sowohl von Ciceros Praxis, mit seinen Adressaten nur um des loqui/iocari willen zu kommunizieren, als auch von dessen Berichten über Tagespolitik und Zeitgeschichte abgrenzt (1‒2):23

       nec faciam, quod Cicero, vir disertissimus, facere Atticum iubet, ut etiam ‘si rem nullam habebit, quod in buccam venerit’ scribat. numquam potest deesse, quod scribam, ut omnia illa, quae Ciceronis implent epistulas, transeam: quis candidatus laboret; quis alienis, quis suis viribus pugnet; quis consulatum fiducia Caesaris, quis Pompei, quis arcae petat; quam durus sit fenerator Caecilius, a quo minoris centesimis propinqui nummum movere non possint.

      Seneca zitiert hier zunächst aus Cic. Att. 1,12,4CiceroAtt. 1.12.4,24 um sich von derartigen Formen leeren Wortgeplänkels in den Briefen zu distanzieren, und führt andererseits auch Beispiele für Nachrichtenaustausch und politischen Klatsch an, worauf er in seinem epistolaren Projekt ebenfalls verzichten will.25 Ähnlich wie Nepos und Seneca weist auch Plinius auf den politischen Gehalt der Cicero-Briefe hin, wenn er konstatiert, dass sein Vorgänger im Unterschied zu ihm selbst nicht nur über ein copiosissimum ingenium verfügt habe, sondern auch auf einen reichhaltigen Stoff für seine Briefe zurückgreifen konnte (9,2,2Plinius der JüngereEpist. 9.2.2: par ingenio qua varietas rerum qua magnitudo largissime suppetebat).26

      Thraede bemerkt in seiner Studie zur antiken Brieftopik, dass „die Ausbeute an briefspezifischen Motiven bei Plinius doch bemerkenswert dürftig“ sei.27 Diese Beobachtung ist m.E. jedoch nicht ganz zutreffend: Zwar bietet uns Plinius freilich keine kohärente Brieftheorie, doch zahlreiche explizite und implizite Äußerungen des Epistolographen über sein Genre liefern wertvolle Hinweise darauf, wie Plinius die Funktionen, Möglichkeiten und Grenzen seiner Gattung einschätzte.28 Diese immanente Gattungstheorie29 sei hier deshalb insbesondere im Hinblick auf das narrative Potenzial von Briefen beleuchtet: Die Idee, dass der Brief als Ersatz für ein Gespräch sowie das persönliche Zusammensein der Briefpartner dient, wird auch bei Plinius häufig thematisiert.30 Mit diesem in der epistolographischen Theorie und Praxis fest verankerten Topos spielt Plinius sogar in einem Brief, den er an einen gewissen Praesens richtet und in dem er den Adressaten dazu auffordert, endlich von seinen Landgütern in Lukanien und Kampanien nach Rom zurückzukehren (7,3,1-2Plinius der JüngereEpist. 7.3.1: iusta causa longioris absentiae, non perpetuae tamen. Quin ergo aliquando in urbem redis?). Bei Praesens dürfte es sich um eine historische Figur handeln,31 deren Namen sich aber wunderbar für ein epistolographisches Wortspiel anbietet: Praesens soll sich durch seine lange Abwesenheit nicht in einen Absens verwandeln. Über die verschiedenen Möglichkeiten, einen absens in einen praesens zu transformieren, äußert sich Plinius etwa im Zusammenhang mit der besonders anschaulichen Schilderung von Objekten oder Ereignissen, wie etwa im Falle der Villen-Ekphrasis in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6.41 (41: nisi proposuissem omnes angulos tecum epistula circumire)32 oder der Erzählung über den Prozess der Attia Viriola (6,33,7Plinius der JüngereEpist. 6.33.7: interesse iudicio), wo die Adressaten bei der Lektüre gleichsam in die Rolle von Betrachtern bzw. Zuschauern schlüpfen.33 Briefe haben neben der gedanklichen Zusammenkunft mit dem Adressaten die Funktion, sowohl über Taten und Ereignisse zu berichten als auch über weitere Pläne zu informieren, wie Plinius etwa in Epist. 1,5,17Plinius der JüngereEpist. 1.5.17 betont (haec tibi scripsi, quia aequum erat te pro amore mutuo non solum omnia mea facta dictaque, verum etiam consilia cognoscere). In Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.1 kündigt Plinius einen ausführlichen Bericht über den Prozess gegen Caecilius Classicus an (1: possum iam perscribere tibi, quantum…laboris exhauserim), und einem ähnlichen Zweck dienen auch die Briefe 5,13Plinius der JüngereEpist. 5.13.1 (1: …ego promisi…scripturum me tibi, quem habuisset eventum) und 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13.1 (1: …postulas, ut perscribam tibi…).34

      Mehrmals weist Plinius zudem darauf hin, dass seine Briefe – häufig handelt es sich um solche mit narrativem Charakter – den Adressaten zur Nachahmung anspornen oder belehren sollen, wie etwa in 3,5Plinius der JüngereEpist. 3.5.20 über Bibliographie und Tagesroutine des Älteren Plinius (20: extendi epistulam…quae…ad simile aliquid elaborandum possunt aemulationis stimulis excitare), in 4,24Plinius der JüngereEpist. 4.24.7 über Pliniusʼ Karriere vor dem Zentumviralgericht (7: isdemque te vel praeceptis vel exemplis monere), in 6,22Plinius der JüngereEpist. 6.22.7 über den Rechtsstreit des Provinzstatthalters Bruttianus (7: quod tibi scripsi, ut te sortitum provinciam praemonerem), in 7,1Plinius der JüngereEpist. 7.1.7 über das Verhalten während einer Krankheit (7: quae tibi scripsi…ut te non sine exemplo monerem), in 8,18Plinius der JüngereEpist. 8.18.12 über das Testament des Domitius Tullus (12: ad rationem vitae exemplis erudimur) und in 9,12Plinius der JüngereEpist. 9.12.2 über einen strengen Vater (2: haec tibi admonitus immodicae severitatis exemplo pro amore mutuo scripsi…).35

      Sofern der Adressat selbst literarisch tätig ist, können Briefe zudem den Stoff für historiographische oder poetische Darstellungen liefern, wie uns etwa in Epist. 6,16, 6,20Plinius der JüngereEpist. 6.16/20 und 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 an Tacitus oder in 9,33Plinius der JüngereEpist. 9.33 an den Dichter Caninius Rufus suggeriert wird. Eine nähere Analyse der betreffenden Texte wird jedoch verdeutlichen, dass diese Charakterisierung von Briefen als „Hilfsmaterial“ für literarisch anspruchsvollere Werke lediglich eine Variante des rhetorischen Bescheidenheitstopos darstellt und diese Episteln tatsächlich den Anspruch erheben, in Wettstreit mit den jeweiligen Gattungen zu treten. Plinius weist zudem mehrmals darauf hin, dass seine Briefe dazu dienen, Zusatzinformationen zu seinen eigenen literarischen Aktivitäten als Redner oder Dichter zu liefern und die Genese, Verbreitung und den Anklang der betreffenden Werke beim Publikum zu schildern; auch in diesem Rahmen reflektiert Plinius über das Verhältnis der Epistolographie zu den betreffenden Genres.36

      Aufschlussreich sind auch Pliniusʼ Bemerkungen zum Themenspektrum, das sich in Briefen behandeln lässt: Es wurde bereits mehrfach beobachtet, dass die Plinius-Briefe im Gegensatz zu denjenigen Ciceros zumeist um einen einzigen Gegenstand kreisen,37 ein Merkmal, über das sich Plinius sogar selbst in Epist. 2,1Plinius der JüngereEpist. 2.1.12 über Verginius Rufus äußert,38 wo es am Ende heißt (12): volui tibi multa alia scribere, sed totus animus in hac una contemplatione defixus est. Ereignisse wie das Staatsbegräbnis des Verginius Rufus gehören