Stefan Frädrich

Das Günter-Prinzip


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lenken wir uns lieber eine Weile mit Telefonaten, Internetsurfen oder Spielen ab. Bevor wir einer Mitarbeiterin direkt sagen, dass sie Murks gebaut hat, befürchten wir Ärger mit der Gleichstellungsbeauftragten und schweigen lieber. Und bevor wir uns den Stress antun, nach dem Essen keine mehr rauchen zu dürfen, hören wir erst irgendwann in der Zukunft mit dem Quarzen auf.

      Erst wenn uns die Aufgabe beinahe physisch in den Hintern tritt, kriegen wir selbigen hoch und blenden sämtliche Ablenkungen aus. Erst wenn die Mitarbeiterin den Fortbestand der Firma bedroht, rückt die nüchterne Leistungsbeurteilung ins Blickfeld.

      Und erst wenn sich im Röntgenbild ein Schatten auf der Lunge zeigt, nehmen wir uns ernsthaft vor, unseren Espresso künftig ohne begleitenden Krebsstängel zu schlürfen. Freilich rennen wir auch dann erst mal zum Hypnotiseur oder in die Apotheke, damit man uns die Entzugserscheinungen wegmacht – selbst wenn sie gar nicht spürbar sind.

      Unsere Schmerzvermeidungskultur Besonders angenehm an der allgemeinen Schmerzvermeidung: Weil ohnehin fast jeder Schmerz und Anstrengung aus dem Weg geht, schaut man uns wegen unserer eigenen Leistungsverweigerung nicht einmal schräg an! Wir leben in einer allgemein anerkannten Schmerzvermeidungskultur und bestätigen uns alle gegenseitig, dass es völlig okay ist, erst dann richtig loszulegen, wenn wir es müssen: Lernen? Erst kurz vor der Prüfung! Malochen? Erst kurz vor der Insolvenz! Alles andere erscheint nicht zumutbar. Wir sind doch keine Masochisten! Und sobald der akute Schmerz, der akute Druck dann wieder vorbei ist, machen wir wieder weiter wie zuvor: Ist die Aufgabe erledigt, gehen wir augenblicklich wieder zur Zerstreuung über – konzentriert nachdenken ist zu anstrengend. Ist die Liquidität unserer Firma gesichert, tolerieren wir selbst die größten Hohlköpfe – egal welchen Geschlechts. Und erweist sich der Schatten auf der Lunge als technischer Defekt des Röntgengeräts, klickt auch schon wieder das Feuerzeug – auf diesen überstandenen Schreck brauchen wir erst mal eine Zigarette.

      Wir halten es also für normal, kuschelig in Watte gepackt zu leben. Wir meinen, jede kleine Unpässlichkeit für Schmerz halten und sie vermeiden zu müssen. Und erst wenn die jeweiligen Erträglichkeitsschwellen überschritten sind, haben wir einen sozial akzeptierten Grund fürs Handeln: »Was sein muss, muss sein!« Kein Wunder also, dass wir oft erst dann funktionieren, wenn wir es müssen! Wir haben es so gelernt. Und wir erfahren es jeden Tag aufs Neue, wenn wir uns mit anderen Menschen (und Schweinehunden) umgeben.

      Langsamer Schmerz erhöht die Leidensfähigkeit Na, klingt das logisch? Möglich. Aber es ist völlig unlogisch! Denn andererseits ertragen wir heroisch die unangenehmsten Situationen, nur um uns nicht verändern zu müssen! Unsere Leidensfähigkeit ist nämlich enorm, wenn sich Schmerzen nur langsam steigern. Wie beim Frosch im Wasser: Wird es sprunghaft wärmer, registriert Kermit die Gefahr und springt ins Trockene. Sonst findet die Muppet Show ohne ihn statt. Steigt die Temperatur aber nur langsam, riskiert er, gekocht zu werden, ohne es zu merken. Und Miss Piggy droht der schmerzhafte Verlust ihres geliebten Punching Ball.

      Genauso ist es bei uns: Es ist unglaublich, was wir alles ertragen können, wenn sich Unangenehmes nur langsam genug entwickelt! Identitätskrisen, Übergewicht, Beziehungsdramen – nichts scheint uns etwas anhaben zu können. Hauptsache nur, die Katastrophe entwickelt sich peu à peu. Dann leiden wir tapfer vor uns hin und merken es oft nicht einmal. Wir sind blind für unsere Dauerschmerzen. Und wieder scheinen wir erst darauf warten zu müssen, dass etwas richtig wehtut, bevor wir uns verändern. Das ganze System muss uns erst so richtig vor die Füße fallen, damit wir reagieren und gegensteuern: Depressionen, Diabetes, der Nachbar im Kleiderschrank. »Los jetzt, tu was dagegen!«, sagt nun selbst Günter. Obwohl sich so manche Katastrophe durch rechtzeitiges beherztes Handeln vermeiden ließe …

      Wer die eigenen Gefühle selbst steuert, steuert sein Leben

      Halten wir also fest: Sowohl das kurzfristige Lustprinzip als auch das Warten auf schmerzhaften Druck stößt an Grenzen. Es scheint uns oft am wirklichen Vorankommen zu hindern, wenn wir uns nur von unseren Gefühlen steuern lassen. Wir leben dann zwar einigermaßen sicher und bequem, werden aber auch übervorsichtig und faul.

      Wäre es demnach nicht viel besser, wenn wir unsere Gefühle steuern könnten? Dann hätten wir indirekt auch einen Antrieb für uns selbst. Sie merken: Wir kommen langsam zum Thema »emotionale Intelligenz« – die Damen werden etwas damit anfangen können. Wir bewegen uns weg vom reinen Reiz-Reaktions-Modell und weiter zum bewussten Wahrnehmen und Interpretieren unserer Gefühle (und der anderer). Denn wer das draufhat, kann sein Leben viel unabhängiger steuern (und mit anderen besser klarkommen): Wer die richtige Brille aufsetzt und die richtige Perspektive einnimmt, kann Gefühle so interpretieren, dass sie fast immer nützlich sind. Sogar die unangenehmen.

      Auch schlechte Gefühle sind schließlich für etwas gut. Etwa falls sie lange anhalten. Dann helfen sie uns nämlich, Irrwege als solche zu erkennen: Nein, es tut nicht wirklich gut, ein chronisches Beziehungsproblem nicht zu lösen. Nein, es ist nicht sinnvoll, jeden Tag gegen ein Burn-out zu kämpfen, weil man seine Arbeitsumstände nicht hinterfragen will. Nein, es hilft nicht wirklich weiter, über Unordnung zu motzen, sich aber nicht zum Aufräumen aufzuraffen.

      Sind schlechte Gefühle hingegen nur kurze Übergangsphasen zu dauerhaft besseren, sieht es genau andersherum aus: Ja, wir sollten unser Leben ohne Zigaretten einüben, selbst wenn es sich zunächst ungewohnt anfühlt, weil wir danach mehr Luft, Kraft und Stolz haben. Ja, wir sollten uns endlich an den Schreibtisch setzen und tun, was wir ewig vor uns herschieben, weil es uns hinterher super geht. Ja, wir sollten ein unangenehmes Gespräch führen, wenn die Aussicht besteht, danach ein Problem gelöst zu haben. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende, sagt der Volksmund. Das gilt auch für die Schrecken, die uns unser innerer Schweinehund vorgaukelt.

      In beiden Fällen sind schlechte Gefühle also Handlungssignale: Einmal sollten wir etwas unterlassen, das uns offensichtlich nicht guttut. Ein anderes Mal tun, was uns offensichtlich guttäte. Es kommt also nur darauf an, wie wir die schlechten Gefühle wahrnehmen und interpretieren und dass wir sie als Startknöpfe für gezielte Handlungen anwenden.

      So werden Sie in vier Schritten zum Chef über UNangenehme GEFÜHLE

      Eigentlich ist es ganz einfach, zum Chef über seine eigenen Gefühle zu werden. Dafür brauchen Sie vier Gedankenschritte:

      1. Was genau nehmen Sie wahr?

      Versuchen Sie, unangenehme Gefühle nicht zu verdrängen, sondern bewusst wahrzunehmen und zu beschreiben! Was fühlen Sie genau?

      Ungeduld? Allgemeine Ängstlichkeit? Furcht vor etwas ganz Bestimmtem? Nervtötenden Stress? Stechenden Schmerz? Dumpfen Druck? Kurze Müdigkeit? Tiefe Erschöpfung? Ratlosigkeit? Hilflosigkeit? Leichte oder starke Über- oder Unterforderung? Nervosität? Gereiztheit? Perspektivlosigkeit? Einsamkeit? Einengung? Und so weiter.

      Je besser Sie wissen, was Sie fühlen, desto eher können Sie Abhilfe schaffen.

      2. Was bedeutet das für Sie?

      Fragen Sie sich nun nach der Bedeutung Ihres unangenehmen Gefühls! Wo kommt es her? Und was will es Ihnen ganz konkret sagen?

      Ist Ihr schlechtes Gefühl vielleicht ein Handlungssignal dafür, etwas Bestimmtes in Zukunft zu tun oder zu unterlassen? Was genau?

      3. Was bedeutet das langfristig?

      Dass Ihnen schlechte Gefühle im Moment nicht guttun, ist klar. Aber wie entwickeln sie sich wohl langfristig? Also ein wenig später, morgen, nächste Woche oder in einem Jahr? Wechseln Sie unbedingt von der kurzfristigen in die langfristige Perspektive! Was werden Sie zukünftig fühlen,