Kayser sah auf die Stirn der Frau, hinter der einiges völlig verkehrt lief, und er fragte sich: Wie bringe ich sie bloß dazu, dass sie richtig denkt? Sie glaubt, in vier Jahren sterben zu müssen und will Marina bis dahin mit dem reichen Nachbarn verheiratet wissen. Ich muss den Hebel bei Ersterem ansetzen. Wenn ich sie davon überzeugen kann, dass sie nicht mit fünfundfünfzig Jahren sterben wird, braucht sie sich auch nicht so zu beeilen, zuvor noch alles „unter Dach und Fach“ zu bringen.
„Ich habe mit Dr. Seeberg gesprochen“, erzählte Sven. „Sie haben großartige Werte.“
Renate Albrecht lächelte. „Ich habe nichts anderes erwartet. Ich fühle mich nicht krank. Kritisch wird es für mich erst in vier Jahren.“
„Sie werden in fünf Jahren noch immer unter den Lebenden sein“, behauptete Dr. Kayser überzeugt. „Und in sechs Jahren. Und in sieben Jahren. Und in zehn Jahren auch noch. Sie sind absolut gesund.“
„Ach, Herr Doktor, eine ähnliche Diskussion hatten wir bereits.“ Renate schüttelte langsam den Kopf. „Geben Sie sich keine Mühe, sie können mich von meiner Meinung nicht abbringen.“ Sie richtete den Blick in eine geistige Ferne. „Mir ist, als könnte ich in die Zukunft sehen ...“
„Tatsächlich?“ Sven Kayser musterte die Patientin ungläubig. „Darf ich fragen, was Sie sehen, Frau Albrecht?“ Er musste sich bemühen, seine Stimme nicht ironisch klingen zu lassen.
„Nichts Konkretes. Ich sehe nur, dass da ... etwas ist ... Noch vier Jahre lang ... Und dann dann sehe ich nichts mehr ...“ Renate Albrecht sah den Grünwalder Arzt fragend an. „Was für einen Reim würden Sie sich darauf machen, wenn Sie an meiner Stelle wären?“
Dr. Kayser antwortete trocken: „Ich würde, wenn ich Sie wäre, dieser merkwürdigen Wahrnehmung keinerlei Bedeutung beimessen.“
8
Nach dem gründlichen Check-up durfte Renate Albrecht nach Hause gehen. Kopien ihrer großartigen Befunde - die jeden anderen in einen berechtigten Freudentaumel versetzt hätten - gingen an ihren Hausarzt.
Sie nahm das ausgezeichnete Untersuchungsergebnis gelassen zur Kenntnis. Man hatte zu früh gesucht. Jetzt war noch nichts zu finden - aber in vier Jahren ...
Kaum war Renate Albrecht daheim, läutete das Telefon. Sie nahm den Hörer ab. „Ja?“
„Du warst in der Seeberg-Klinik?“ Das war Irene Trömer. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll - oder gar gekränkt?
„Ja“, antwortete Renate Albrecht und schlüpfte aus den Schuhen.
„Was fehlt dir?“
„Nichts. Absolut nichts.“
„Ich bin Marina begegnet“, erzählte Irene.
„Wann?“
„Vor einer Stunde.“
„Wo?“, wollte Renate wissen.
„In der Goethestraße“, sagte Irene. „Sie war sehr in Eile. Was ist denn los, Renate?“
„Dr. Kayser wollte, dass ich einen medizinischen Check-up machen lasse, und ich habe mich für drei Tage in die Seeberg-Klinik gelegt.“
„Und? Hat man etwas gefunden?“
„Überhaupt nichts.“
„Das ist ja sehr erfreulich“, sagte Irene. „Warum hat mir niemand gesagt, dass du im Krankenhaus bist? Ich hätte dich besucht.“
„Wozu denn der Aufwand?“, gab Renate zurück. „Für nur drei Tage.“
„Sind wir Freundinnen oder nicht?“, fragte Irene leicht eingeschnappt.
„Ich hatte Besuch von Marina und Gabriel. Das reichte mir.“
„Wie du das sagst ...“
„Warum soll ich mich verstellen?“, meinte Renate. „Du weißt, wie ich zu Gabriel Keller stehe. Ich schätze ihn als Mensch, aber ich möchte ihn nicht an der Seite meiner Tochter haben. Wenn er sich für eine andere Frau erwärmen könnte, wäre er mir lieb und wert, aber er hat bedauerlicherweise nur Augen für Marina.“
„Bedauerlicherweise. So ein Quatsch. Du solltest froh sein ...“
„Wieso will mir jeder seine Meinung aufzwingen?“, fiel Renate Albrecht der Freundin ins Wort.
„Weil deine falsch ist“, behauptete Irene Trömer. „Und weil du dasselbe bei Marina versuchst.“ Sie machte eine kurze Pause. Dann fragte sie: „Darf ich dich zum Essen einladen?“
„Wann?“
„Wie wär’s mit heute Mittag?“, erkundigte sich Irene. „Hast du schon etwas vor?“
„Nein.“
„Zwölf Uhr?“, fragte Irene.
„Einverstanden.“
„Ich hole dich ab.“
„Alles klar.“
Die Freundinnen legten gleichzeitig auf. Renate Albrecht zog sich um. Das Telefon läutete wieder, und diesmal war Marina dran. „Bist du gut nach Hause gekommen, Mama?“, erkundigte sie sich.
„Ja, mein Kind“, sagte Renate Albrecht sanft.
„Ich wollte dich abholen ...“
„Du hast gesagt, dass du nicht kommen kannst, weil du so viel zu tun hast.“
„Ich wollte es trotzdem möglich machen und dich überraschen“, sagte Marina, „aber ich hab’s einfach nicht geschafft.“
„Das macht doch nichts, Kleines.“
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles in Ordnung“, gab Renate Albrecht zurück. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Gott, wie sehr sie ihre brave Tochter liebte. „Arbeite nicht zu viel, hörst du?“, sagte sie fürsorglich.
„Ich habe Irene Trömer getroffen.“
„Ich weiß. Sie hat mich vor wenigen Minuten angerufen. Wir werden zusammen zu Mittag essen.“
„Ich wünsche dir guten Hunger“, sagte Marina.
„Danke.“
Nach diesem Anruf nahm Renate Albrecht sich die Post vor, die sie bei ihrem Eintreffen mit ins Haus gebracht hatte. Die meisten Sendungen waren an ihre Tochter adressiert.
Geschäftspost - vom Tapezierer, vom Baumeister, vom Fliesenleger ... Von Leuten, mit denen die Innenarchitektin Marina Albrecht zusammenarbeitete.
Und da war noch eine Sendung von einem Gemüsehändler! Defekt. An der Seite so weit aufgerissen, dass es an ein Wunder grenzte, dass der Inhalt nicht verloren gegangen war.
Der Inhalt war eine Tonbandkassette. Renate Albrecht hielt den Umschlag so, dass die Kassette herausrutschen musste. Ein Zettel klebte daran.
Für meine große Liebe Marina, stand in bunten Zierbuchstaben darauf. Was mochte auf dem Band sein? Was mochte Gabriel Keller aufgenommen haben?
Ein