Joyce Carol Oates

Cardiff am Meer


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      »– schhh! Glaubst du, Gott hört das nicht?«

      Die Großtanten vertrauen Clare an, dass ihr »Junggesellen-Onkel«, Gerard Donegal, früher einmal Jesuit werden wollte. Er war im Priesterseminar Saint Joseph in Portland, Maine, bis er aus »persönlichen, familiären Gründen« aussteigen und nach Cardiff zurückkehren musste, um mit seinen Eltern zusammenzuwohnen.

      Seit dem Tod seines Vaters übernahm er die Rolle des Chauffeurs für seine verwitwete Mutter, in den letzten Jahren musste er sie hauptsächlich zu Arztterminen und zum Gottesdienst in die St. Cuthbert’s Church fahren. Allen rundherum war klar – Gerard war ein äußerst treusorgender Sohn. Er sorgte sich um die Instandhaltung des Anwesens und verdiente sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten in der Nachbarschaft.

      Doch stets verfolgte er seine persönliche Pilgerreise, bis heute.

      Wirklich? – Clare konnte es nicht glauben. Der gequälte Gesichtsausdruck, die gelblichen Zähne und die abwehrenden Augen passten ihrer Meinung nach nicht zu einer religiösen Geisteshaltung …

      »Oh, doch – sehr wohl. Gerard ist zwar kein sehr geselliger Zeitgenosse – wie du sicher gemerkt hast! – aber er ist ein sehr verlässlicher Arbeiter. Er mäht Wiesen, schneidet Bäume, kehrt Laub mit einem richtigen Rechen zusammen, nicht mit solch einem fürchterlichen Laubbläser – nein, mit einem riesigen, riesigen Rechen, wie man ihn gar nicht mehr kaufen kann. Er wird graben, graben, graben, wo immer man es braucht. Er befreit die Zufahrten vom Schnee. Er arbeitet im Regen – im Schnee. Er kann Gebüsche lichten. Er kann Hausdächer reparieren, Kamine. Er kann kaputte Fenster austauschen. Er kann Malerarbeiten erledigen – so gut wie jeder Profi und viel preiswerter. Natürlich kann er auch eine Waffe benutzen – Gewehr, Schrotflinte. Man kann ihn anheuern, um Murmeltiere zu schießen, Waschbären – Schädlinge, die den Garten zerstören. (Gerard schießt aber keine Rehe – obwohl Cardiff überflutet ist von Weißwedelhirschen. Es ist gesetzlich verboten, Rehe innerhalb der Stadtgrenzen zu jagen, aber Gerard wird sie, wenn man ihn darum bittet, wegscheuchen.) Es gibt tatsächlich Damen entlang der Acton Avenue, die sehr von ihm abhängig sind – ›Was täten wir nur ohne Gerard Donegal!‹, sagen sie. Er hatte sich als Neunzehnjähriger im Priesterseminar eingeschrieben, wollte Gott als Priester dienen, und eine ganze Zeit lang war er auch glücklich dort. Seine Mutter war so stolz auf ihn – wir waren alle sehr stolz auf ihn – aber dann …«

      »Also – neunzehn war einfach jung –«

      »Neunzehn war nicht jung. Nicht für einen Seminaranfänger.«

      »Neunzehn war jung, Gerard war einfach zu jung – blauäugig, sagten manche. Zu gottesfürchtig.«

      »Was er alles auf sich genommen hat, diese harte Arbeit, Latein zu lernen, sich so sehr zu bemühen, des Priesteramtes würdig zu sein –«

      »– gut zu sein –«

      »– ein Gefäß, das mit Gott gefüllt werden will –«

      »– mit Jesus –«

      »– einfach zu viel für den armen Gerard – glauben wir –«

      »Und dann – unsere Familientragödie …«

      »Der arme Gerard! Alles endete so – abrupt …«

      »Ah, was sagst du da? Du meinst, der arme Conor

      »Conor, Gerard – unsere geliebten Neffen! – Gott sei uns allen gnädig.«

      Clare hat aufmerksam zugehört. Sie fühlt sich wie ein Kind inmitten boshafter Erwachsener, die sich unverständlich schnell in einer Art Geheimcode unterhalten. Sie kann die Bedeutung der Worte nicht verstehen. Sie muss mit jeder Faser ihres Seins zuhören. Was wollen die Großtanten ihr sagen?

      Clare hört sich selbst mit schwacher Stimme stammeln: »Das – heißt – dann – wohl – dass – sie – nicht mehr – leben? Also, meine Eltern?«

      Bestürzte Stille. Elspeth und Morag tauschen schnell einen flüchtigen Blick, antworten aber nicht, so als ob ihre ahnungslose junge Verwandte etwas wirklich Obszönes von sich gegeben hätte.

      Selbstverständlich sind deine Eltern tot. Niemand spricht mehr von ihnen.

       Was hast du denn geglaubt – dass sie alle diese Jahre gelebt und nur auf dich gewartet haben?

      Clare möchte ihre Großtanten gar nicht anschauen, möchte gar nicht sehen, wie sie sie anschauen – mitleidig? mitfühlend? entrüstet?

      Sie bedankt sich für das Frühstück und bietet ihre Hilfe an, den senfgelben Tisch abzuräumen, doch mit einem Zischen gibt Elspeth ihr zu verstehen, still zu sein.

      »Bitte, Clare! Das wollen wir gar nicht hören. Du bist doch Gast in Maude Donegals Haus.«

      Morag stimmt ihr nachdrücklich zu. »So ist es. Ich räume den Tisch ab. Jetzt beginnt meine Schicht, glaube ich.« Sie hievt sich hoch auf ihre kurzen Beine und prustet los, wie nach einem fragwürdigen Witz.

      Wie es aussieht, wechseln die Großtanten sich mit der Hausarbeit ab. Sie erklären Clare, dass sie bis zum Termin beim Nachlassgericht und bis alle Grundstücksangelegenheiten abgewickelt sind, gezwungenermaßen die Zahl der Hausangestellten verringern müssen.

      »›Abwechseln‹ – hör sich einer das an! Ich tue hier die meiste Hausarbeit.«

      Morag lacht lauthals auf.

      »Tust du nicht! Das ist eine Verleumdung.«

      »Was? Verleumdung?«

      »Ich erledige alle finanziellen und geistigen Arbeiten, was viel anstrengender ist …«

      Während das Gezänk der Schwestern hin- und hergeht, schweift Clares Blick durchs Fenster nach draußen. Wohin ist Gerard verschwunden? Sie kann nur eine Ligusterhecke sehen, die wild über einen Weg aus gebrochenen Steinplatten wächst, Regentropfen. Es scheint, als ob Gerard in diese Richtung verschwunden wäre, aber keine Spur von ihm.

      »Gerard lebt mit euch in diesem Haus zusammen?«, fragt Clare.

      »Gerard lebt in diesem Haus, wie wir auch«, sagt Elspeth.

      »Wir sind keine Donegals, weißt du – Morag und ich. Unser Familienname ist Lacey.«

      Elspeth spricht mit einem Anflug von Stolz, so als ob der Name Lacey Clare beeindrucken könnte. Morag korrigiert: »Unser Mädchenname ist das – Lacey.«

      »Sei nicht albern! Lacey ist unser Familienname, nicht unser Mädchenname – weil wir doch gar nicht verheiratet sind.«

      »Ja, natürlich sind wir nicht verheiratet! Ich auf jeden Fall nicht.« Morag lacht noch einmal von Herzen.

      »Und deswegen können wir gar keinen ›Mädchen‹namen haben, wenn wir gar nicht verheiratet sind. Wir haben doch nur unseren eigenen Familiennamen. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, ich spreche mit einem dickköpfigen Idioten, der nicht die einfachsten Dinge versteht.«

      Elspeth lacht verbittert, rollt ihre Augen in Clares Richtung.

      Aber Morag ist fest entschlossen, Clares Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. »Maude war die einzige Lacey-Schwester, die sich getraut hat, zu heiraten. Sie hatte den Mut, der den anderen fehlte. Diese Herausforderung, ›die Spezies zu reproduzieren‹ –, eine Aufgabe, die für manch anderen zu groß ist.«

      »Und sie hat sehr gut gewählt. Einen älteren Herrn –«

      »– Le-land –«

      »Sie hat uns aber nie im Stich gelassen – oder nicht sehr lange.«

      »Was meinst du damit – nicht sehr lange? Maude war immer sehr großherzig zu ihrer Familie –«

      »– fast immer –«

      »– und als dann diese Tragödie über ihr Leben hereinbrach, brauchte sie ihre Schwestern nah bei sich.«

      Tragödie?