Joyce Carol Oates

Cardiff am Meer


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zu erklären, Miss Seidel – ich habe zu jener Zeit nicht in Cardiff gelebt und hatte auch beruflich damals nichts mit Ihrem Großvater Leland Donegal zu tun.«

      Pause. Zu viele flüchtige Informationen, um sie alle zu verarbeiten. Clare fühlt sich wie gefangen in einem bergab rasenden Auto auf einer kurvenreichen Straße. Außerstande zu steuern, außerstande zu bremsen.

      Mit der Absicht, das Thema zu wechseln, fragt Fischer Clare, ob sie Kaffee möchte. »Unsere Sekretärin bringt Ihnen gerne einen, wenn Sie möchten.«

      Clare lehnt ab, bedankt sich aber herzlich. In ihrer derzeitigen, leicht verletzlichen Gemütsverfassung werden kleine Freundlichkeiten hochgeschätzt.

      Noch immer ist Fischer bemüht, Clare vom Tod ihrer Eltern abzulenken. Deswegen fragt er sie, übertrieben höflich, wie ihr Cardiff gefällt. Und ihre Großtanten? Und wie gefiel ihr die Fahrt entlang der Küste von Bryn Mawr?

      Clare hört sich selbst herumstottern, nach Antworten suchen. Ein Teil ihres Gehirns versucht eine Art Konversation zu führen.

      »Wussten Sie, dass Cardiff ursprünglich Cardiff-by-the-Sea hieß? Aber niemand nennt es mehr so und die meisten der Bewohner haben es auch längst vergessen.«

      Es folgen persönliche Fragen, freundlich und zuvorkommend. Fischer bereitet sie sorgfältig vor, denkt sie. Hütet sich, sie in den engen Grenzen seines Büros zu beunruhigen.

      Clare erzählt Fischer, dass sie den B.A. an der Universität von Minnesota abgeschlossen hat und einen Ph.D. in Kunstgeschichte an der Universität von Chicago, doch dass sie noch nicht sehr häufig Kunstgeschichte unterrichtet hat. Vielmehr hat sie sich um Forschungsstipendien beworben, um ihre Projektarbeit ungehindert fortführen zu können: Zunächst bekam sie ein Guggenheim-Stipendium, durch das sie frei und selbständig ihre Monografie zu Leben und Werk von Gertrude Stanton Kasebier fertigstellen konnte. Diese Arbeit wurde anschließend von angesehenen Zeitschriften der Kunstgeschichte publiziert und in kleineren Fachmagazinen rezensiert; ihr zweites Stipendium erhielt sie vom Institut für Geisteswissenschaften von Bryn Mawr. Nach dieser Aufzählung gewinnt Clares Leben – ihr schien es bisher immer so spärlich, minimalistisch, teilweise sogar klösterlich – enorm an Bedeutung. Fischer lächelt sie an, offensichtlich beeindruckt. Es liegt eine Art Romantik darin, ein Leben, in kleinen Anspielungen zu beschreiben.

      »Ehrlich, Miss Seidel, ich beneide Sie. Sich mit Schönheit zu umgeben, statt mit – Gesetzen.«

      Clare nickt stumm. Ja.

      »In der Kunst ist selbst das Hässliche wunderschön, irgendwie. Stimmt’s?«

      Clare nickt. Dasselbe hat sie auch schon häufig gedacht. Je kühner und geheimnisvoller die Hässlichkeit, desto größer die Schönheit. Ja.

      »Ich glaube allerdings, dass der Grund Ihres Besuches heute eher die Modalitäten Ihrer Erbschaft sind – habe ich recht?«

      Es scheint, als ob Clare nur eine von vielen ist, die Maude Donegal in ihrem Testament bedacht hat. Die Situation ist kniffliger als üblicherweise, gibt Lucius Fischer zu, denn Mrs. Donegal hatte mehrere Testamente zurückgelegt, zwei davon wurden nicht in Cardiff, sondern von einer Anwaltskanzlei in Portland aufgesetzt. Tatsächlich wurden die Begünstigten, auch Elspeth und Morag waren darunter, je nach Lust und Laune wohl raus- und wieder reingenommen, ihre Namen herausgestrichen und wieder eingefügt; wieder raus und wieder rein, häufig von Mrs. Donegal höchstpersönlich, in ihrer eigenen, spinnenhaft-krakeligen Handschrift. Häufig waren damals keine tauglichen Zeugen anwesend. Das letzte, von Fischer selbst im November 2017 verfasste Testament, das ihn als Nachlassverwalter benennt, nimmt selbstverständlich einen höheren Rang ein als alle vorherigen, doch von den in früheren Testamenten bedachten Personen sind jetzt Forderungen zu erwarten. Die früher Begünstigten werden wohl Entschädigungen bekommen, wenn ihre Forderungen nachvollziehbar sind.

      Und es gebe noch eine weitere Komplikation, erklärt Fischer Clare, denn ihr Name tauche erstmals überhaupt erst im Testament von 2015 auf. Die Erbschaft wurde der »überlebenden Tochter von Conor Donegal« überschrieben. Lediglich im allerletzten Testament hatte Maude Donegal den Namen Clare Ellen Seidel notiert.

      Wie merkwürdig, denkt Clare. Überlebende Tochter von Conor Donegal – so als ob Clare keine Mutter gehabt hätte …

      Und überlebende Tochter hört sich so an, als ob es noch eine Tochter oder Töchter gegeben hatte, die nicht überlebten.

      Trotz allem versichert Fischer Clare, dass es über ihr Erbe keinerlei Unklarheit gibt: knapp fünf Hektar Ackerland und Wald, ein Farmhaus und Nebengebäude im Norden von Ashford County, Post Road.

      Tatsächlich: Eigentum. Clare fühlt eine Welle des Glücks bei diesem Gedanken.

      »Schade, ich habe kein Foto von dem Anwesen für Sie. Ich habe es auch noch nie selbst gesehen. Der Norden von Ashford County ist, glaube ich, nur sehr spärlich besiedelt. Wunderschöne Landschaft, hügelig – entlang der Küste. Man erzählte mir, das Anwesen sei ziemlich heruntergekommen … Es gibt auch noch Steuerrückstände, die Sie begleichen müssen. Tut mir leid, aber so will es das Gesetz.«

      Lucius Fischers So will es das Gesetz! hört sich fast vergnügt an.

      Clare erfährt, dass sie frühestens in drei Monaten in den Besitz ihres Eigentums kommt. Weiß sie über die Feinheiten im Prozedere eines Nachlassgerichtes Bescheid …?

      Clare schüttelt den Kopf, nein, sie weiß nur sehr wenig über das Nachlassgericht. Sehr wenig über Testamente. Sie fühlt sich schwindlig, orientierungslos.

      Nicht mehr am Leben. Überlebende Tochter.

      Fischer klärt sie darüber auf, dass sie laut Gesetz Geld leihen kann, um die Forderungen zu begleichen, wenn sie möchte.

      »Machen die Leute das so? Einen Kredit aufnehmen auf ihr Erbe?« Clare ist verblüfft.

      »Oh ja. Häufig.«

      »Wirklich! Also ich würde das nicht tun.«

      Jemand hat mich geliebt. Nach all diesen Jahren.

      Hier ist der Beweis: Clares Großmutter hat die Anstrengung unternommen, ihren Namen in Erfahrung zu bringen und sie ausfindig zu machen. Nach so vielen Jahren, Clares Name in ihr Testament eingefügt.

      »Die Menschen tun unerwartete Dinge«, sagt Fischer, als könne er Clares Gedanken lesen, »wenn sich ihr Leben dem Ende nähert. Manchmal spielt da das Gewissen eine Rolle – als ob ein halb begrabener Gott erwacht.«

      Was für eine seltsame Bemerkung!, findet Clare. Es dämmert ihr, dass Lucius Fischer doch weniger durchschnittlich ist, als sie dachte.

      »Mrs. Donegal war, soweit ich weiß, keine außergewöhnlich exzentrische Person, doch ihr Testament ist auf jeden Fall ein recht exzentrisches Dokument.«

      Fischer hat Kopien jener Seiten gemacht, die Clares Erbe betreffen, damit sie zu Hause alles nachlesen kann. Das gesamte Testament umfasst mehr als dreißig Seiten komplizierter Juristensprache, das meiste davon hat gar nichts mit ihr zu tun.

      »Vielen Dank! Das ist ja – wunderbar …«

      Clare ist freudig erregt, sie wünschte, sie könnte dieses Gefühl mit jemandem teilen.

      In meinem Alter. Aus dem Nichts heraus. Jemand sorgte sich um mich.

      Fischer ist aufgestanden. Zeit, zu gehen. Wenn sie keine weiteren Fragen hat …

      Sie hat das Gefühl, dass sie etwas vergessen hat … Aber was hat sie vergessen?

      An der Wand hinter Lucius Fischers Schreibtisch hängt ein glänzender Mahagoni-Rahmen mit einem Diplom: LUCIUS M. FISCHER, UNIVERSITY OF MAINE LAW SCHOOL.

      Für einen kurzen, verwirrenden Augenblick fragt Clare sich, ob das Diplom echt ist. Ob überhaupt irgendetwas hier – echt ist.

      Ein Gefühl, als ob ihre Persönlichkeit sich auflöst. Wie Tau, den unbarmherzig die Morgensonne trifft.

      Möchte