sie sich unwohl fühlt in ihrer Haut, schafft Clare es doch, Optimismus und Freude auszustrahlen. Im Zweifelsfall ist es für eine attraktive jüngere Frau einfach klug, die Naive zu spielen. Sie möchte gemocht werden! – unbedingt. Ist Clare denn nicht Gerards lang verloren geglaubte Verwandte, irrtümlicherweise als Waisenkind weggegeben? Sollte Gerard sie nicht eher anlächeln, mit einem Gesicht, das wundersames Erstaunen ausdrückt, ein herzliches Willkommen?
Sollte Gerard nicht von seinem Stuhl aufspringen, zu ihr hineilen, sie umarmen? – sodass seine starken Arme ihre Rippen zu zerquetschen drohen?
Sollte Gerard nicht ihre Wangen küssen, sie freudig anlachen, mit ihr lachen?
Doch der finstere Gerard bewegt nur leicht seine Schultern unter der Tweedjacke. Clare hört ihn etwas murmeln wie ja oder ah. Kein Zweifel, er ist verärgert, weil er beim Zeitunglesen gestört wird, die gefaltet neben seiner Porridgeschüssel liegt.
»Ich bin Clare. Ich glaube – deine Nichte? Ich meine – eine deiner Nichten …«
Wie absurd! Clare merkt, dass ihr Gesicht brennt, wie peinlich. Als Kind ist man Personen wie Gerard gegenüber leicht verletzlich, genauso wie gegenüber etwas älteren Kindern, die einen mit ihrem undurchschaubaren, scheinbar feindseligen Verhalten einschüchtern; man erkennt, dass sie einen verachten oder zumindest ablehnen, doch man hat keinen Schimmer, warum das so ist, weil man doch eigentlich nichts getan hat, was sie hätte verärgern können. Ohne zu wissen, warum, bemüht man sich unablässig weiter, lächelt bis das Gesicht schmerzt, in der Hoffnung, dem anderen wenigstens ein gleichgültiges Lächeln zu entlocken, wohlwissend, dass alle Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind.
Doch Clare ist kein Kind mehr. Clare Seidel ist dreißig Jahre alt. Sie ist eine viel attraktivere Person als dieser wächserne Gerard Donegal, den sie unter anderen Umständen, in einer anderen Umgebung keines Blickes gewürdigt hätte. Clare sollte diesem tückischen Gelände längst entwachsen sein, von dem man doch nur als Kind seinen Peinigern nicht entkommen kann, weil das Klassenkameraden sind, mit denen einen die wohlmeinenden Erwachsenen zusammengestopft haben und mit denen man dann in einer Hölle feststeckt.
Die Großtanten werden jetzt ungeduldiger, tadeln provozierend: »Clare ist deine Nichte, Gerard. Wir haben dir gestern von ihr erzählt. Erinnerst du dich nicht? Sie ist die Tochter von –«
»– du erinnerst dich: Conor.«
Gerard blickt noch finsterer drein. Schüttelt den Kopf, nein.
Clare fragt sich, was sie davon halten soll. Gerard erinnert sich nicht an seinen verstorbenen Bruder Conor, oder möchte sich nicht erinnern? Oder er glaubt vielleicht nicht, dass die junge Frau, der er vorgestellt wurde und die ihn weiterhin hoffnungsvoll anlächelt, tatsächlich seine Nichte ist.
»Clare ist Conors jüngstes Kind, Gerard –«
»Du erinnerst dich – da bin ich mir sicher.«
Clare ist verwirrt, den Namen Conor so häufig zu hören, so beiläufig.
Zum ersten Mal hat sie »Conor« laut ausgesprochen gehört, denkt sie. Wenn nicht Lucius Fischer ihn am Telefon erwähnt hatte. – Sie kann sich nicht erinnern.
Eine unerklärliche Magie umgibt diesen Namen, der sie zum Weinen bringen möchte, doch ein Lächeln auf ihre Lippen zaubert. Mein Vater.
Genauso bei der Frau namens Kathryn, ihrer Mutter. Meine Mutter.
Überwältigend für Clare, dieses Rätsel, von dem sie nicht weiß, wie sie es lösen könnte, diese Erkenntnis, dass die drei Fremden in diesem Raum, hier direkt vor ihr, nicht nur Blutsverwandte sind, sondern dass sie ihren Vater gekannt haben, und dass sie, wann immer sie wollen, einfach so nebenbei über ihn sprechen können – Conor.
Seit sie denken kann, hat Clare ihre Situation akzeptiert – Waisenkind. Keine Verwandten. Und jetzt …
Clare hat die Geburtsurkunde, die ihre Mutter Hannah ihr per Eilpost geschickt hat, sorgfältig gelesen. Ein offizielles Dokument, das Clare sicher früher schon einmal gesehen, doch wegen geringen Interesses auch wieder vergessen hatte.
Warum sollte es mich kümmern, wer ich einmal gewesen bin? Sie haben mich weggegeben, sie haben sich einen Dreck um mich geschert.
Die Namen ihrer (leiblichen) Eltern schienen für Clare nichts mit realen Personen zu tun zu haben, so wie man die Namen weit entfernter Orte auch nicht mit realen Orten verknüpft. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass diese Fremden ab ihrer Geburt nicht mehr existierten, als ob ihre Geburt deren Tod herbeigeführt hatte; obwohl es doch gar keinen Grund für solch einen bizarren Gedanken gab. Sie hat immer gewusst, oder hätte wissen müssen, dass sie erst zur Adoption freigegeben wurde, als sie schon zwei Jahre alt war, fast drei. Nicht als Neugeborenes.
»Clare ist unser Gast, Gerard! Auch dein Gast.«
»Clare ist hierhergekommen, um Mr. Fischer zu treffen, Gerard – unseren Anwalt.«
»Auch deinen Anwalt!«
»Sie ist den ganzen Weg von Philadelphia hierhergefahren, ist das nicht beeindruckend? Ganz allein mit dem Auto.«
»Wegen des Testamentes – des Testamentes deiner lieben Mutter. Du erinnerst dich –«
»Sie hat auch geerbt. Deine Nichte Clare.«
»Die alte Farm in der Post Road, mein Lieber. Leider – ja …«
»Du könntest Clare ja vielleicht mal hinfahren, damit sie sieht, was sie geerbt hat –«
»– eine gute Gelegenheit, dass ihr euch kennenlernt, du und Clare –«
»– es sei denn –«
»– es sei denn, natürlich –«
»– du möchtest lieber nicht.«
Die Worte hängen wie eine Herausforderung in der Luft. Lieber nicht.
Bei diesen Worten steht Gerard abrupt vom Tisch auf. Sein Stuhl rutscht hart über den Holzboden.
Er gibt ein Knurren von sich, verachtend, spöttisch. Entblößt gelbliche Zähne in einem erbosten Gesicht. Seine Augen schlingern in ihren Höhlen hin und her, doch er schaut Clare nicht an – er hat Clare nicht ein einziges Mal angeschaut.
Mit seiner linken, gesunden Hand greift er seine Mütze und die gefaltete Zeitung und verlässt polternd den Raum durch die hintere Tür.
Hinterlässt einen Geruch von Asche, ein ungewaschener männlicher Körper, ungewaschenes Haar. Nicht einmal ein kurzer Seitenblick.
Die Großtanten sind wie erstarrt, weit aufgerissene Augen, in Alarmbereitschaft wie ein Vogel Strauß. Aus ihren Mündern zischende Laute, tsss. Clare wundert sich, warum sie nicht dankbar sind, dass ihre Fragerei den mürrischen Mann aus ihrem Blickfeld getrieben hat.
»Oh je! Es tut uns so leid, Clare –«
»Normalerweise ist unser Neffe Gerard nicht so –«
»– grob –«
»– schüchtern. Er fühlt sich unter Fremden nicht sehr wohl –«
»– sogar dann nicht, wenn die Fremden Familienangehörige sind –«
»– zurückgeblieben, menschenscheu –«
»– dickköpfig, stur –«
»– schrecklicher Schock – Trauma –«
»– früher war er gescheit –«
»– so gescheit wie Conor –«
»– nein! – nicht annähernd –«
»– doch. Als er am Priesterseminar anfing –«
»– aber nicht so gescheit wie Conor – nein –«
»– fleißiger