sich völlig anders. Da setzt sie konsequent Grenzen und zeigt sich selbstbewusst und durchsetzungsfähig.
Mit gespitzten Ohren lauscht sie auf die Geräusche von draußen und ein hässlicher Gedanke schleicht sich ein. Ein Vorgefühl, wie einsam es sein könnte, wenn sie hier ohne Frank leben würde.
Das Telefon klingelt und sie schrickt zusammen. Sie starrt das schwarze, altmodische Telefon mit Wählscheibe an. Das wird Frank sein. Sie ist froh, dass er sich meldet und sie mit ihm reden kann. Kathrin nimmt den Hörer ab und sagt ihren Vornamen. Am anderen Ende atmet jemand, dann herrscht Stille.
»Wer ist da?«, ruft sie ärgerlich. Keine Antwort. Es rauscht und knistert in der Leitung. Dann folgt nur noch ein hämisches Lachen. Wütend knallt sie den Hörer auf.
Kapitel 6
Die ganze Zeit hat Tina über Jelenas plötzliches Verschwinden nachgedacht. Sie will Jörgs Meinung dazu hören. Aber als sie am Spätnachmittag nachhause kommt, trifft sie ihn nicht an. Auch in seinem Zimmer hält er sich nicht auf. Seit gestern Nachmittag hat sie ihn nicht mehr gesehen. Er muss erst spät in der Nacht heimgekommen sein.
Ihr fällt die Eintragung in Jelenas Notizbuch ein. „Blue Hour Bar“. Sie recherchiert im Internet. Im Zentrum Potsdams findet sie eine Bar mit diesem Namen, geöffnet ab einundzwanzig Uhr.
Die Hausarbeit erledigt sie mechanisch, während der Wunsch die Bar aufzusuchen, immer dringlicher wird. Sie saugt das Wohnzimmer, räumt in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine, wischt die Flächen. Die Wäsche muss noch erledigt werden. In der Kammer stopft sie die schmutzige Wäsche in die Maschine, stutzt einen Moment. Weshalb sind die Jeans von Jörg so mit Erde verkrustet? Wahrscheinlich ist ein Gärtner ausgefallen, für den er einspringen musste.
Nachdem alles erledigt ist, schaut sie auf ihre Armbanduhr. Zwanzig Uhr fünfzehn. Jörg ist immer noch nicht da und auch auf seinem Handy ist er nicht zu erreichen.
Spontan entscheidet sie sich nach Potsdam zu fahren.
Sie zieht sich weiße Jeans an und eine schwarze Seidenbluse. Im Bad schminkt sie sich die Lippen, trägt grauen Lidschatten auf, tuscht sich die Wimpern und bürstet sich die Haare.
Es ist fast einundzwanzig Uhr, als sie losfährt. Kurz bevor sie in die B2 einbiegt, fährt ein dunkler Volvo an ihr vorbei und sie erkennt Jörg. Das versetzt ihr einen Stich. Offensichtlich hat er sie nicht bemerkt, sonst hätte er angehalten. Wenn sie heimkommt, wird er sie misstrauisch fragen, wo sie war. So wie in letzter Zeit ständig, wenn er sie zuhause nicht angetroffen hat.
Bald passiert sie die Lange Brücke, die zur Innenstadt von Potsdam führt. Das Navi leitet sie in die Charlottenstraße und verkündet: »In hundert Metern haben Sie ihr Ziel erreicht«. Tina findet erstaunlich schnell einen Parkplatz. Sie steigt aus dem Auto, schaut sich um. Auf der anderen Straßenseite leuchtet ihr die Neonbeleuchtung der Bar in einem fahlen Blau entgegen.
Die Tür steht offen und es ist zu dieser Zeit noch fast leer in der Bar. Zwei Männer, die an einem Tisch sitzen, mustern sie einen Moment neugierig und wenden sich wieder ihrem Gespräch zu. Tina setzt sich an die Theke. Die Barfrau, die ein schulterfreies Kleid in leuchtendem Blau trägt, nähert sich mit einem Lächeln und bringt ihr eine Getränkekarte. An ihrem Ausschnitt ist eine Brosche befestigt in Form einer Krone, auf der Nicole steht.
»Können Sie mir einen nichtalkoholischen Cocktail empfehlen?«
Die Frau tippt auf die Karte. »Ipanema, das ist so etwas wie ein nicht alkoholischer Caipirinha, mit Ginger Ale und Maracujasaft. Sehr erfrischend.«
Tina nickt. »Hört sich gut an.«
Sie beobachtet, wie Nicole Limettenviertel und Rohrzucker in ein hohes Glas gibt und stößelt, Eiswürfel hinzugibt und das Ganze mit Maracujasaft und Ginger Ale auffüllt. Zum Schluss dekoriert sie das Glas mit Minze und fügt einen Strohhalm hinzu.
»Köstlich«, kommentiert Tina das Getränk, nachdem sie an dem Glas genippt hat. »Sie verstehen Ihr Handwerk.«
Tina offenbart sich als Köchin, die auch Cocktails zubereiten kann, und beginnt mit Nicole über die neuesten Mixgetränke zu fachsimpeln.
»Ich zahle schon mal. Nachher wird es sicher sehr voll.« Sie schiebt Nicole einen Fünfzigeuroschein über den Tresen. »Stimmt so. Bei der Gelegenheit möchte ich Sie etwas fragen. Diese Freundin hat mir das Blue Hour empfohlen. Kennen Sie die vielleicht?«
Tina zeigt ihr das Foto, das sie aus Jelenas Zimmer mitgenommen hat.
»Ja klar kenne ich die!«, ruft Nicole aus. »Die war häufiger hier. Schöne Frau, mit polnischem Akzent.«
»Ist sie denn alleine gekommen?«
Nicole lacht. »Nein, wirklich nicht. War immer in Begleitung. Meist mit älteren Herren.« Sie zwinkert Tina zu. »Sie machte den Eindruck einer Studentin, die sich ein paar Sugardaddys hält. War auffallend teuer angezogen. Aber ich will Ihre Freundin um Gotteswillen nicht verurteilen. Jeder soll so leben, wie er will. Was ist denn mit ihr?«
»Sie ist von einem Tag auf den anderen verschwunden und hat nur einen Zettel hinterlassen, sie müsste zu ihrer kranken Mutter fahren.«
Nicole lacht. »Na, wenn das mal keine Ausrede ist. Vermutlich war es ihr unangenehm zu verraten, dass sie zu einem reichen Kerl gezogen ist.« Sie hebt die Schultern, als wolle sie sagen, so ist das Leben. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte.« Sie wendet sich neuen Gästen zu.
Tina rührt nachdenklich den Inhalt ihres Glases mit dem Strohhalm um. Von Jelenas Doppelleben zu hören überrascht sie. Aber wer kann es Jelena verübeln, dass sie die Chance ergreift, wenn ihr ein Mann ein Leben in Wohlstand anbietet?
Tina stellt das Cocktailglas auf den Tresen.
»Vielen Dank. Bis bald.« Sie schenkt Nicole ein Lächeln und verlässt die Bar.
Jörg liegt im Wohnzimmer auf dem Sofa, ein Bierglas in der Hand und sieht sich einen Action Film an. Er mustert sie prüfend, schaut auf seine Uhr und fragt: »Wo kommst du denn zu dieser Zeit her?«
»Ich war in einer Bar.« Tina lächelt.
Er runzelt die Stirne und sieht sie ärgerlich an. »Erzähl nicht so einen Unsinn. Du gehst nie in eine Bar.«
»Und wo warst du gestern Abend“, fragt Tina.
«Wir hatten noch eine geschäftliche Besprechung.«
»So, so. Bis in die tiefe Nacht.« Tina holt sich ein Glas Rotwein aus der Küche und setzt sich zu Jorg an den Couchtisch.
»Jelenas Verschwinden hat mich beunruhigt. Deshalb war ich gestern Nachmittag in ihrem Zimmer. Es war alles leergeräumt und sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Den wollte ich dir zeigen.«
Jörg zeigt sich interessiert, denn er setzt sich auf und schaltet sogar den Fernsehapparat aus.
Sie schiebt ihm den Brief über den Tisch.
Er nimmt ihn in die Hand, liest ihn und sagt: »Das ist ja nicht gerade die feine Art einen Abgang zu machen. Ich habe häufiger gesehen, dass sie von einem Mann abgeholt wurde. Die Geschichte mit der Mutter erscheint mir unglaubwürdig. Aber das geht uns nichts an. Die Sache ist für mich erledigt. Den Zettel werde ich in der Personalakte abheften. Das ist in meinen Augen die fristlose Kündigung einer Arbeitnehmerin.« Er sieht sie ausdruckslos an.
»Als ich mich gestern in Jelenas Zimmer umsehen wollte, habe ich dich und Sven aus dem Haus kommen sehen. Und die Kellertür stand offen. Was habt ihr da gewollt?«
Jörg blinzelt sie an und nimmt einen Schluck aus seinem Bierglas. Vermutlich will er etwas Zeit für seine Antwort gewinnen. »Ach das. Manuela will Ratten im Keller gesehen haben. Wir haben Köder ausgestreut.«
Sie glaubt ihm nicht.
Kapitel 7
Kathrin hält mit dem Fahrrad vor dem Tor, den Korb voller Lebensmittel auf dem Gepäckständer. Im Supermarkt in Neu Seddin hat sie alles gefunden, was sie einkaufen wollte. Am Obststand