auf Knopfdruck noch nicht ganz entronnen, ahmten sie letztendlich bei der Gründung ihres Unternehmens etwa zwei Jahre später5 die ihnen vertraute Welt nach. In den Folgejahren und insbesondere als der Risikokapitaldamm brach, floss das Geld in Strömen ins Silicon Valley. Unter den Start-ups entbrannte ein Kampf um die knappen und begehrten Ingenieurstalente, befeuert durch immer bessere Bonusleistungen und eine Vielfalt an Vergünstigungen.
Auch wenn diese Vergünstigungen in erster Linie dem »Kampf um Talente« dienten, könnte man ihnen jedoch auch noch einen ganz anderen, verhängnisvolleren Zweck unterstellen. Laut Richard Walker, emeritierter Professor für Geografie an der University of California, Berkeley und erfahrener Valley-Beobachter, sollten die Menschen durch »all diese tollen Dinge am Arbeitsplatz« dazu verleitet werden, im Büro zu bleiben. Und sie sollten produktiv bleiben. »Wenn man keine Besorgungen machen muss und sogar Kinderbetreuung bekommen kann, dann macht man einfach all diese Überstunden, was ohnehin schon seit sehr langer Zeit gängige Arbeitskultur ist«, sagt er. »Gewissermaßen ist es auch Überwachung, denn sie können dich jede Minute des Tages im Auge behalten.«
Darüber hinaus führte dieser Trend laut Professor Walker zur Stärkung einer »sehr männlichen«, fast infantilisierten Kultur. »Indem man die Jungs in diesem kleinen Kokon oder Schoß beherbergt, fördert man quasi die Einstellung der jungen Männer, dass sich Mama ja um alles kümmert; wie von Zauberhand erscheint das Essen, und ›Wenn meine Süßigkeiten nicht da sind, hat Mama bestimmt vergessen, sie zu besorgen!‹«
Er fährt fort: »Im späten 19. Jahrhundert sieht man, wie die Bourgeoisie versucht, über die von Dickens propagierte Enthaltsamkeit, Sparsamkeit und harte Arbeit hinauszukommen in eine Lebenskultur, die Freizeit zulässt, den Zugang zur freien Natur und den Genuss von Kultur fördert und so weiter. Aber mittlerweile ist das Ganze ausgeufert zu einem ›Wo verdammt ist mein Schokoriegel?‹. Es ist eine Art reductio ad absurdum der Bedürfnisbefriedigung der Menschen. Aber es geschieht durch Dinge, die ohne Anstrengung einfach wie durch Zauberhand auftauchen. Wenn nicht von Mama, dann vom Arbeitgeber, vom Markt oder von Amazon Prime oder von irgend jemand anderem.«
Das Karussell an Vergünstigungen, das viele Tech-Einhörnern anbieten, vergiftet diese Lebenseinstellung zusätzlich. Deano Roberts war bis vor kurzem VP Global Workplace and Real Estate beim Software-Einhorn Slack und hat jetzt eine ähnliche Rolle bei Samsara inne. Er sagt, das Valley habe einen grundlegenden Fehler begangen, als die Grenze überschritten wurde zwischen der Förderung des Wohlergehens der Arbeitnehmer und der Schaffung eines Gefühls der Anspruchsberechtigung und der Abschottung der Tech-Arbeiter von der umgebenden Gemeinschaft. Roberts, ein Veteran der U.S. Army und immer noch Oberst in der Army-Reserve, erklärt, dass den Slack-Mitarbeitern nur »ein oder zwei« kostenlose Mahlzeiten pro Woche angeboten werden, vorrangig als Team-Building-Maßnahme. »Ansonsten sagen wir zu unseren Mitarbeitern: ›Wir bezahlen euch gut! Ihr müsst rauskommen aus diesem Gebäude! Gebt Euer Geld in den Tante-Emma-Läden in der Gegend aus. Hier gibt es tolle Restaurants, geht raus und seid Teil der Gemeinschaft.‹ Das hilft nicht nur ihnen, sondern es ist besser für uns alle.«
Vergünstigungen seien bestimmt nicht der ausschlaggebende Grund dafür, warum man einen Job macht, meint Roberts weiter. »Keiner wird sagen: ›Mann, ich hasse meinen Job und meinen Chef wirklich, aber am Donnerstag bekomme ich kostenlose Rippchen.‹ Also ja, ich bin der Meinung, das Valley hat das falsch verstanden – ich glaube auch, es ist beleidigend für die Mitarbeiter. Und ich denke nicht, dass es nachhaltig ist. Es schafft eine ungesunde Kulturblase, weil man buchstäblich aus dem Fenster auf Leute schaut, die alle diese Vorteile nicht haben.«
Ozon hat in Russland nie an dieser Front gekämpft – obwohl das Werben um Mitarbeiter im Wettstreit mit Yandex, Google und anderen sicherlich einfacher gewesen wäre, hätten wir es gekonnt. Allerdings hatte ich Führungs- oder Beraterrollen in einigen Unternehmen inne, die sich durchaus an diesem Ansatz zur Talentakquise und -bindung ohne Rücksicht auf Verluste beteiligt haben. Viele Beschäftigte in der Tech-Branche sind dadurch weitgehend vom Leben der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung isoliert. Dies fördert die kaltherzige Einstellung, dass die, die kämpfen und keinen Anteil am »Kopfgeld«erhalten, irgendwie ihres eigenen Glückes Schmied sind und einfach »aufhören sollten, sich zu beschweren«, »bessere Entscheidungen treffen« oder »härter arbeiten« sollten.
»Was wissen Software-Entwickler schon über die Welt!«
Meiner eigenen Erfahrung nach, und bestätigt durch akademische Forschung6, sind viele Software-Entwickler introvertierte Menschen, die sich – aufgrund einer eher eng gefassten Ausbildung und aufgrund erster Berufserfahrungen – schwer damit tun, die Welt aus der Perspektive anderer zu sehen. Sie sehen selten die unbeabsichtigten Folgen und Nebenwirkungen der digitalen Technologie für die Gesellschaft. Eine Studie mit dem Titel »Personality Types in Software Engineering«7 von der University of Western Ontario kam zu dem Schluss:
»Wenn Software-Entwickler darüber diskutieren, wie eine Aufgabe erfüllt werden muss, hat die Mehrheit oft Schwierigkeiten damit zu verbalisieren, wie sich die Aufgabe auf die beteiligten Personen auswirkt. Der größte Unterschied zwischen Software-Entwicklern und der allgemeinen Bevölkerung ist tatsächlich der, dass Entwickler prozentual gesehen häufiger Maßnahmen auf Grundlage ihrer Gedanken und nicht auf Grundlage der Gefühle anderer ergreifen. Das trägt nicht wirklich dazu bei, die Software-Entwickler dem Anwender näherzubringen.«
Ingenieure in den USA haben normalerweise einen ähnlichen Hintergrund, sagt Professor Walker aus Berkeley. »Die sorgfältig behüteten, technisch gut vorbereiteten, aber sozial ungebildeten Ingenieure haben eine lange Geschichte. Als ich in Stanford studierte, wollte ich Ingenieur werden, bis mir klar wurde, dass 80-90 Prozent aller meiner Kurse festgelegt waren. De facto heißt das, dass man eigentlich nichts über gesellschaftliche Themen lernt, sondern sich völlig darauf fokussiert, gute Brücken oder Maschinen für den Produktionsapparat zu bauen und das Ganze nie in Frage stellt. Viele dieser Jungs sind also einfach sozial unzureichend auf das Leben vorbereitet.«
Ja, das mag übertrieben klingen, aber es dient der Verdeutlichung eines sehr ernsten Aspekts: Wir sollten uns nicht wundern, wenn Entwickler Programme schreiben mit wenig intuitivem Verständnis dafür, welche Folgen sie in der realen Welt haben könnten. Erst lernen sie wenig bis nichts über Themen der Geisteswissenschaften. Anschließend finden sie sich in einer Burschenschafts-ähnlichen Atmosphäre wachstumsstarker Start-up-Unternehmen wieder. Diese größtenteils in einer Ecke von Kalifornien oder Seattle angesiedelten Firmen bilden dann wiederum selbst Blasen.
Abb. 2.1: Die Herausforderung der Tech-Giganten: Diversität von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht
Das Ganze wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass das Valley trotz seiner »aufgeschlossenen« Weltanschauung und seiner Selbstdarstellung als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit immer schon überwiegend männlich, weiß oder asiatisch war und immer noch ist (siehe Abbildung 2.1).
Was den Mangel an Frauen betrifft, so verstecken sich Führungskräfte der Tech-Branche gerne hinter der Ausrede, dass sich nicht genügend Frauen in den entsprechenden naturwissenschaftlichen, technischen, ingenieurwissenschaftlichen und mathematischen MINT-Fächern an der Universität einschreiben. Tatsächlich brechen viele Frauen diese Studiengänge ab oder gehen anschließend in andere Berufe, weil die »Bro-Culture« allzu oft von Belästigung, Frauenfeindlichkeit oder offener Ausgrenzung geprägt ist. Laut einer eigenen Studie über eingeschriebene Studentinnen an der MIT »fühlen sich Frauen oft ausgegrenzt, besonders im Rahmen von Praktika, anderer Semesterferienjobs oder teambasierter Bildungsaktivitäten.