Stefan Mühlfried

Blaulichtmilieu


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weggestolpert und dann gestürzt. Und plötzlich war es, als ob die ganze Welt zusammenstürzen würde. Ich wusste sofort: Das war die Bombe, jetzt stirbst du.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, berührte dabei die verbrannte Gesichtshälfte und zuckte zusammen. »Wissen Sie, ich bin nicht besonders religiös, aber Gott scheint seine schützende Hand über mich gehalten zu haben, sonst wäre ich nicht mehr hier.« Er lachte matt.

      »Können Sie sich erinnern, was nach der Explosion passiert ist?«, fragte Marie.

      Boskop schüttelte den Kopf, so gut er konnte. »Nein. Nur noch an einen Sanitäter, der mir sagte, dass alles gut wird.«

      »Ist Ihnen noch mehr aufgefallen?«

      »Nein. Zurzeit fällt mir nichts mehr ein.« Boskop tastete nach der Bedienung für das Bett und stellte das Rückenteil auf Liegeposition. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich würde mich gerne ausruhen. Ein andermal mehr.«

      »Natürlich. Ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Nachttisch. Sie können mich jederzeit anrufen.«

      Boskop nickte und wedelte schwach mit der Hand.

      Marie trat hinaus auf den Krankenhausflur mit den grellen Neonröhren und dem quietschenden Linoleum. In einer Nische stand ein Wasserspender; sie füllte einen Pappbecher, trank und dachte nach. Was Boskop berichtet hatte, klang glaubhaft und schlüssig. Sie würde es überprüfen, aber sie hatte keinen Grund, an seinen Aussagen zu zweifeln. Für einen verhinderten Selbstmordattentäter hielt sie ihn auf jeden Fall nicht.

      Ein Stück den Flur hinunter fand sie das Dienstzimmer und klopfte an. Eine Schwester öffnete, Marie zeigte ihren Dienstausweis und bat um ein Gespräch mit dem Stationsarzt. Der kam rund zehn Minuten später, führte sie in den Aufenthaltsraum und bot ihr Kaffee an, den sie dankend annahm.

      »Schwesternkaffee«, sagte der Arzt, ein jungenhaft wirkender Mann Mitte 30 mit Kunststoffbrille und weißem Polohemd statt Arztkittel. Auf seinem Namensschild stand »Dr. Kreuzer, Stationsarzt«. »Benutzen wir hier auch zur Wiederbelebung.« Er gab reichlich Milch in den Kaffee, dann schob er ihr die Packung hinüber. »Was kann ich für Sie tun?«

      »Ich wollte mich nach dem Gesundheitszustand von Herrn Boskop erkundigen.«

      »Sie wissen schon, dass die ärztliche Schweigepflicht mir verbietet, Ihnen Auskünfte zu erteilen?«

      »Sicher. Ich möchte mich nur mit Ihnen absprechen, ab wann Herr Boskop Ihrer Ansicht nach uneingeschränkt vernehmungsfähig ist.«

      »Waren Sie nicht gerade bei ihm?«

      »Ja, aber nur kurz. Wie Sie sich vorstellen können, habe ich viele Fragen an Herrn Boskop, die mir unter den Nägeln brennen.«

      Dr. Kreuzer zuckte die Schultern. »Das ist schwer zu sagen. Herr Boskop hat uns mit seiner raschen Besserung sehr überrascht. Zwar hat sich bald nach der Einlieferung herausgestellt, dass seine Verletzungen weit weniger gravierend waren als befürchtet. Wie schnell es mit ihm aufwärts ging, hat uns aber doch verblüfft. Der Unfall ist gerade mal drei Tage her, und er gibt schon Interviews.«

      »Das heißt bei uns Vernehmung.«

      »Weiß ich.«

      »Moment – er hat schon mit der Presse gesprochen?«

      Dr. Kreuzer runzelte die Stirn. »Kurz bevor Sie kamen. Hat er nichts davon gesagt?«

      »Nein. Wissen Sie, worum es ging?«

      »Keine Ahnung. Ich schätze mal, das werden Sie in spätestens zwei Stunden im Fernsehen sehen.«

      Und damit kündigte sich die nächste Überraschung an.

      Auf der Rückfahrt zum Polizeipräsidium klingelte Maries Telefon. Thewes war dran.

      »Wer war dieses Arschloch, das dich gestern im Büro besucht hat?«, fuhr er sie statt einer Begrüßung an.

      »Was? Wen meinst du?«

      »Na, wen wohl? Diesen Kerl, der gestern in unsere Nachmittagsbesprechung geplatzt ist, du weißt schon.«

      Ja, Marie wusste es. »Was ist mit ihm?«

      »Siehst du keine Nachrichten?«

      »Tut mir leid, Chef, ich arbeite. Und im Auto sehe ich grundsätzlich nicht fern«, sagte sie etwas schnippischer, als sie wollte.

      »Ja, ja, schon gut. Melde dich bei mir, wenn du da bist.« Er legte auf.

      Was, in drei Teufels Namen, hatte Tim nun schon wieder verbockt? Konnte der Kerl nicht einfach aus ihrem Leben verschwinden? Hatte sie nicht genug um die Ohren?

      Sie überlegte, aufs Gas zu treten, entschied sich aber dagegen. Wenn das mit Arthur so weiterging, wollte sie ihm lieber keinen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung erklären müssen.

      Also zügelte sie ihre Ungeduld und stand erst 20 Minuten später vor Arthurs Büro. Sie holte tief Luft, drückte die Klinke hinunter und trat ein.

      Und musste sich das Lachen verbeißen.

      Neben dem Schreibtisch ihres Chefs stand ein rosa Hundekörbchen. Darin saß die entzückendste französische Bulldogge, die Marie sich vorstellen konnte, und sah sie mit aufgestellten Ohren erwartungsvoll an. Der Kontrast zwischen Arthurs finsterem Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen und den treudoofen Kulleraugen der »blöden Töle« war zu viel für die härteste Mordermittlerin.

      »Wage es nicht«, knurrte Arthur, dem Maries zuckende Mundwinkel nicht entgangen waren. »Kein Wort!«

      Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Rasch ging sie zum Besucherstuhl vor Thewes’ Schreibtisch und setzte sich so, dass Minnie außer Sichtweite war. Das half jedoch nichts, denn der Hund kam prompt um den Tisch gedackelt, setzte sich vor sie und sah sie mit schief gelegtem Kopf an. Marie blickte stur zu Arthur und bemühte sich um Fassung.

      Der drehte sein Notebook zu Marie. »Da. Erklär mir das bitte.«

      Er startete die Aufzeichnung der Fernsehnachrichten. Sie war, das konnte Marie an der Zeitangabe in der Bildecke erkennen, weniger als eine Stunde alt.

      Das Bild zeigte Boskop in seinem Krankenbett, von genau derselben Stelle aus aufgenommen, an der Marie gesessen hatte. Boskop wirkte gefasst, aber erschöpft. Marie war sich mittlerweile nicht mehr sicher, wie viel davon echt und wie viel gespielt war.

      Eine Stimme aus dem Off kommentierte das Bild: »Der verheerende Anschlag auf den Hamburger Flughafen, für den der Islamische Staat die Verantwortung übernommen hat, liegt erst drei Tage zurück, viele Menschen trauern um ihre Angehörigen, andere sind auf dem Wege der Besserung. So wie Wolfgang Boskop, der nur mit sehr viel Glück überlebt hat. Kein anderer Überlebender stand näher am Ort der Explosion als er. Trotzdem hat er sich jetzt schon bereit erklärt, mit unserem Reporter zu sprechen.«

      Ein Mikrofon wurde unter Boskops Kinn gehalten. Er sah jemanden außerhalb des Bildes an und lächelte matt. »Ich habe einfach Glück gehabt. Großes Glück. Der da oben wollte mich wohl noch nicht haben.«

      »Herr Boskop, unserer Redaktion liegt eine Aufzeichnung der Überwachungskameras vor, die zeigt, dass Sie mit jemand anderem um einen Koffer ringen. Was hat es damit auf sich?«

      Boskop überlegte kurz, dann lächelte er wieder. »Ja, das stimmt. Ich hatte den Eindruck, mit diesem Koffer stimme etwas nicht, deswegen wollte ich ihn zur Polizei bringen.«

      »Befand sich die Bombe in diesem Koffer?«

      »Ja, keine Frage.«

      »Sie haben mit dem Besitzer des Koffers gestritten? Warum?«

      Boskop runzelte die Stirn. »Tja … Ich konnte ihn doch nicht einfach die Bombe zünden lassen. Es ging ja nicht nur um mein Leben, sondern um all die anderen in der Halle.«

      »Sie haben also versucht, die Explosion zu verhindern?«

      »Ja, ich habe es versucht. Nicht sehr erfolgreich, wie es scheint, oder?«

      Das