das ist unbezahlbar. Gib es wieder her. Bitte! Es ist nur … geliehen.«
»Scheiß drauf, geliehen. Es gehört jetzt uns. Und ich verspreche dir, dass wir dich erst mal in Ruhe lassen, okay? Das nenne ich einen fairen Deal. Was meinst du, Bruder?«
»Mehr als fair, Mann.«
»Das geht nicht. Das ist das Heilige Blut. Wir müssen es zurückgeben, sonst wird Gott uns strafen. Ich habe es mitgenommen, weil ich wusste, dass ihr mir nicht glaubt, dass ich heute Nacht in der Basilika war.«
»Machst du Witze? Es gibt keinen Gott. Also gibt es keine Strafe. Wenn hier einer straft, bin ich das. Ist dir das klar?«
»Au … Ich muss es zurückbringen … Gib her … Bitte!«
»Jetzt pass auf, mein Freund. Ich sage es nur einmal. Das Teil gehört jetzt mir! Verpiss dich. Und noch etwas: Wenn du mit irgendjemand darüber redest, bist du ein toter Mann. Das meine ich ernst, ist das klar?«
»Mach keinen Scheiß. Die stecken uns ins Gefängnis.«
»Heul nicht rum und halt’s Maul. Niemand geht ins Gefängnis, solange du die Fresse hältst. Und das würde ich dir echt raten, wenn dir dein Leben lieb ist. Zieh Leine.«
»Ich geh nicht ohne das Heilige Blut. Gib es her!«
»Er scheint es nicht zu begreifen. Okay, Bruder, halt das Teil. Ich muss deutlicher werden …«
Tumult.
Immer wenn sich Stimmen erheben, um den Choral des Widerstands anzustimmen, gibt es Abweichler, die sich nicht der Aufbruchsmelodie beugen wollen. Zu hart, zu zart, zu ideell, zu kommerziell, zu chaotisch, zu geordnet, zu primitiv, zu intellektuell, zu gemäßigt, zu radikal. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Ablehnung kundzutun, die primäre Frage ist, ob man gehört wird.
Luis kannte das zu gut. Die letzten Versammlungen der Blutritt-Gegner im »Alibi« hatten immer in einem heillosen Durcheinander geendet, da keine Einigung darüber zu erzielen war, ob und wie die Prozession nachhaltig gestört oder gar verhindert werden konnte. Es gab eine sehr radikale Fraktion, die bereit war, sich durch gewaltsame Aktionen Gehör zu verschaffen. Viktor Zwercher war einer der Wortführer dieses Flügels, und er war es, der mit seinen Sprayaktionen in der Stadt bewies, dass er es ernst meinte.
Für die sanfte Riege um Anong Praves, zu der Luis’ Freundin Charlotte gehörte, standen solche Aktionen nicht zur Debatte. Sie setzte auf Aufklärung, verteilte Flugblätter, errichtete Informationsstände in der Stadt, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. »Überzeugen statt überfallen«, war ihr Motto. Jeden Samstag waren die jungen Frauen im Einsatz, doch nicht viele der Passanten ließen sich durch die Argumentation überzeugen, dass es sich bei dem Blutritt um ein touristisch aufgeblähtes Spektakel handele, bei dem die katholische Kirche versuche, Macht zu demonstrieren, die sie nicht mehr besaß. Der Blutritt-Tourismus gehörte zu Weingarten wie die Pädagogische Hochschule oder die Basilika, die Einwohner hatten sich an den Trubel gewöhnt und sahen in den Besuchern keine Gefährder der Ruhe, sondern eine wichtige Geldquelle der Stadt.
Luis stand ideologisch eher auf Zwerchers Seite, aber er wollte Anong und ihre Anhänger bei Laune halten. Allein Charlotte zuliebe konnte er nicht parteiisch sein, daher blieb er neutral und appellierte stets an den Zusammenhalt der Gruppe. Ungewollt war er in die Rolle des Vermittlers geraten und stand nicht selten zwischen den Fronten.
Anong hielt gerade ein flammendes Plädoyer für ihre Arbeit, sie hatte einen Journalisten überzeugen können, einen Bericht über die Bedenken der Blutritt-Gegner zu schreiben. Sie wurde immer wieder von Zwerchers Leuten unterbrochen.
»Der Schreiberling will dir an die Wäsche. Der sieht dich, dein glänzendes schwarzes Haar und deine dunklen Mandelaugen, stellt sich vor, wie es wäre, mit einer Asiatin ins Bett zu gehen, und wird geil!«, rief Carsten, ein etwas ungepflegt wirkender Hüne, der mit seinem ausgewaschenen Kapuzenpullover, seiner Camouflagehose und den schweren Doc Martens aussah wie ein aus der Zeit gefallener Hausbesetzer.
Anong zischte ihm ein »Fuck you« zu. Sie hatte Luis erklärt, dass sie oft genug mit Problemen wegen ihres asiatischen Aussehens zu kämpfen hatte, dabei war sie geborene Ravensburgerin. Ihre Eltern lebten seit mehr als 25 Jahren in Deutschland, sie selbst hatte deren Heimat Thailand nur auf Urlaubsreisen kennengelernt und konnte mit vielen Gebräuchen nicht viel anfangen. Sie fühlte sich durch und durch als Oberschwäbin und reagierte auf Vorurteile äußerst allergisch. Luis konnte das verstehen.
»Da spricht der blanke Neid aus dir«, sprang Charlotte ihrer Freundin bei. »Keine Haare, keine Mandelaugen, kein Verstand. Klar, dass der Journalist nicht mit dir sprechen will.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und funkelte Carsten zornig an.
»Oh, die Frau Gestütsbesitzerin wird böse«, ätzte ihr Gegenüber und verzog verächtlich den Mund. »Dabei sind es Typen wie dein Vater, die diesen Blutritt-Quatsch möglich machen. Er profitiert sogar davon. Je mehr Teilnehmer kommen, desto mehr Pferde kann er in Pension nehmen. Also halt besser dein vorlautes Maul.«
Charlotte sah ihn wütend an. Luis wusste, dass es viele nicht gern sahen, dass sie bei den Versammlungen der Gegner dabei war. Dabei versuchte sie regelmäßig, ihren Vater, den Pferdehofbesitzer Ortwin Riedle, zu überzeugen, dass es für die Tiere purer Stress war, am Blutritt teilzunehmen. Sie beschwor ihn, den Hof umzugestalten in eine Pension mit Gnadenhof. Allerdings interessierte sich ihr Erzeuger nicht für das »Öko-Gewäsch« seiner Tochter und wusste nicht, dass sie sich im »Alibi« mit seinen Gegnern traf. Er hätte es ihr mit Sicherheit verboten.
»He, jetzt beruhigt euch«, mischte sich Luis ein. »Es ist gut, wenn sich die Medien mit unseren Argumenten auseinandersetzen. Auf diese Weise erreichen wir mehr Leute. Ich finde es toll, dass Anong Kontakt mit dem Journalisten aufgenommen hat.«
Er lächelte sie an und sie erwiderte es, während um sie herum eine vielstimmige Diskussion einsetzte. Luis sah zu Viktor hinüber, der lässig auf seinem Stuhl fläzte und auf das Display seines Smartphones blickte, fast so, als ginge ihn diese Versammlung nichts an. Luis wunderte sich. Das war so gar nicht die Art des Sprachrohrs der Radikalinskis. Normalerweise war er der lauteste und ungehobelteste Gegner von Anongs »Weichspülern«. Doch an diesem Tag war nichts von seiner üblichen Aggression zu spüren, er wirkte fast unbeteiligt. Vielleicht war er wieder bekifft. Das kam in letzter Zeit hin und wieder vor, aber das machte Viktor eigentlich nur unsympathischer.
»Ruhe jetzt, verdammt noch mal!«, brüllte Luis.
Das Stimmengewirr verstummte. Luis atmete tief durch.
»Mit gegenseitigem Angezicke kommen wir hier nicht weiter. Wir haben nicht mehr viel Zeit. In acht Tagen startet die Prozession, und wenn wir unseren Protest in irgendeiner Art kundtun wollen, müssen jetzt konkrete Schritte eingeleitet werden. Wer also eine Idee hat, die umsetzbar ist, der kann sie jetzt vortragen. Verschont uns bitte mit theoretischen Konstrukten. Die helfen uns im Moment nicht.«
Er ließ seine Worte auf die rund 20 Versammelten wirken. Einige starrten auf die Tischflächen vor sich, andere veränderten ihre Sitzposition, jedoch meldete sich niemand, um einen Vorschlag zu machen.
»Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen? Ihr seid doch sonst so einfallsreich. Oder verlässt euch so kurz vor dem Blutritt der Mut?«
Luis blickte in die Runde. Anong schob ihr Blatt mit Notizen auf der Tischfläche hin und her, Charlotte schmollte, Carsten drehte sich eine Zigarette und Viktor tippte irgendetwas in sein Smartphone. Seine Ignoranz nervte Luis. Er ging auf ihn zu und riss ihm das Telefon aus der Hand. »Vielleicht kannst du auch etwas zu diesem Treffen beitragen, statt zu chatten.«
Viktor erhob sich und baute sich vor Luis auf. Er überragte ihn um einen halben Kopf, aber Luis war ein drahtiger Kerl und kannte keine Angst.
»Gib mir das Handy zurück«, knurrte Viktor. »Und spiel dich hier nicht so auf. Während ihr hier blöd herumlabert, arbeite ich an einer konkreten Lösung.«
Luis ließ die Hand mit dem Handy sinken. »Wie meinst du das?«
Mit einem gezielten Griff