Olaf Nägele

Goettle und die Blutreiter


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erwiderte Pfarrer Goettle und lächelte sanft. »Aber mol im Ernschd: Wer könnte Interesse an der Reliquie han oder könnte es sei, dass oiner den Blutritt verhindera will?«

      Seegmüller ging um seinen Schreibtisch herum, zog eine Schublade auf, kramte eine Mappe hervor und warf sie vor Goettle auf die Schreibtischplatte. »Da drin sind alle Artikel, Briefe und E-Mails gesammelt, in denen sich Menschen negativ über die Prozession äußern. Genervte Autofahrer, deren Fahrzeuge in den letzten Jahren abgeschleppt wurden, weil sie sich nicht an das Parkverbot in der Innenstadt gehalten haben. Frauen, die sich darüber beschweren, dass sie nicht teilnehmen dürfen. Anwohner, die sich durch die Prozession in ihrer Ruhe gestört fühlen. Menschen, die keiner Kirche angehören und kein Verständnis für den Blutritt aufbringen können. Menschen, die einem anderen Glauben angehören und sich ausgeschlossen fühlen. Radikale Kirchenhasser, Wutbürger, Verschwörungstheoretiker, die gegen alles sind, und so weiter. Wenn Sie diese Papiere durchlesen, werden Sie denken, dass niemand den Blutritt will.«

      Goettle blätterte in dem Papierstapel und zog einen Brief hervor, der aus Zeitungsbuchstaben verschiedener Größe zusammengesetzt war. »Wir bluten für den Blutritt«, stand dort geschrieben. »Aufruf zur Massen-De-Menstruation! Frauen Oberschwabens versammelt euch!«

      Biberachs Pfarrer ließ kopfschüttelnd das Blatt sinken. »Des Schreiba könnt von meine ›Grüne Minne‹ sei. Des isch a Frauengruppe in Biberach, mit denne isch net zum spaße. Wenn die sich was in dr Kopf g’setzt hen, kennet die koi Pardon. Außerdem spennet die a bissle. Aber Diebstahl? Des isch eigentlich net die Art von de ›Minne‹.«

      »Was machen wir denn jetzt?«, fragte Seegmüller.

      »Wenn Se vielleicht doch die Polizei eischaltet?«

      Weingartens Stadtpfarrer sprang von seinem Stuhl auf, als hätte ihn jemand unter Strom gesetzt.

      »Auf gar keinen Fall!«, polterte er. »Wenn die Polizei ermittelt, erfährt über kurz oder lang die Presse von dem Diebstahl. Und das macht ganz schnell in ganz Weingarten, ach was sage ich, in ganz Oberschwaben die Runde. Keine Reliquie, kein Blutritt. Das wäre eine Katastrophe für die gesamte Region.«

      Goettle massierte die Schläfen. Er konnte es sich gut vorstellen, was eine solche Nachricht nach sich ziehen würde: Hotels würden massenhaft Stornierungen erhalten, die Ladengeschäfte würden Umsatzeinbußen hinnehmen müssen und das Image der Kirche würde unter dem Diebstahl immens leiden. Medien würden sich auf die Geschichte stürzen und sie ausschlachten. Den armen Seegmüller würden sie als Bruder Leichtfuß markieren, der nicht imstande war, auf die Kostbarkeit aufzupassen. Und es war damit zu rechnen, dass es für ihn berufliche Konsequenzen haben konnte. Die Diözese würde sich einschalten und Ermittlungen anstellen, der öffentliche Druck auf Seegmüller würde zunehmen und letztlich würde er zurücktreten müssen.

      »Ond wie wär’s, wenn a Duplikat zom Einsatz käm? Zumindeschd für den Altar. Damit die Besucher koine Froga stellet.«

      Seegmüller stutzte und sah sein Gegenüber nachdenklich an. »Für den Altar wäre das eine Notlösung. Den Blutritt können wir jedoch nicht mit einer Fälschung durchführen. Es geht schließlich um Gottes Segen, der den Menschen Trost und Hoffnung schenkt. Mit einer Replika kann das nicht gelingen, das wäre Betrug an allen Gläubigen.«

      Goettle nickte. Er hatte selbst einige Male am Blutfreitag teilgenommen und die Kraft gespürt, die von der Prozession ausgegangen war. Er hatte sich einer Gemeinschaft zugehörig gefühlt, und als das Heilige Blut an ihm vorübergetragen wurde, war es, als würden Herz und Geist gleichzeitig berührt. »Sie hen natürlich recht. Mir machet des so: Fürs Erschde sperret mir den Zugang zum Altar und hänget a Tuch drüber. Mir saget, dass er saniert werda muas, ond dann solltet mir jemand finda, der an Reliquiar macha kann.«

      »Nun, da gäbe es eine Lösung. Ich kenne jemanden, der in der Lage wäre, eine Kopie des Reliquiars anzufertigen. Ich fürchte allerdings, der Herr ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Und ehrlich gesagt möchte ich ihn nicht um einen Gefallen bitten, geschweige denn ihn in diese Geschichte einweihen. Diesen Triumph gönne ich ihm nicht.«

      Goettle erhob sich. »I glaub, mir hen im Moment net so viele Möglichkeita, ond persönliche Animositäta solltet mir außa vor lassa. I schwätz mit dem Kerle. Vielleicht duat der mir an G’falla. Ond weil mir koi Zeit zom verliera hen, mach i mi glei uff der Weg.«

      Eine halbe Stunde später stand Andreas Goettle im Juweliergeschäft Trautwein in der Ochsengasse und wartete darauf, dass Georg Trautwein Zeit für ihn fand. An den Wänden des altmodisch wirkenden Ladens hingen kunstvoll gefertigte Kreuze, Bilder mit christlichen Motiven, zwischen den Vitrinen mit den Schmuckstücken standen Ikonen und Figuren von Schutzheiligen, die über die kostbaren Exponate wachten.

      Der Inhaber des alteingesessenen Betriebs, ein gedrungener, grauhaariger Herr, den Andreas Goettle auf 70 Jahre schätzte, bediente ein junges Paar. Seegmüller hatte den Juwelier gut beschrieben, auch wenn er ihn mit Eigenschaften ausstaffiert hatte, die ihm etwas Diabolisches verleihen sollten. In Wahrheit handelte es sich bei Trautwein um einen gutmütigen, höflichen Gesellen, der zudem mit der Geduld eines Bahnschrankenwärters auf der Schwäbischen Alb ausgestattet war, wie Andreas Goettle während des Verkaufsgesprächs erfahren durfte. Der weibliche Part seines Kundengespanns hatte das Objekt der Begierde offensichtlich bereits für sich entdeckt, während sich beim maskulinen Teil die Freude in Grenzen hielt. Offensichtlich war der Preis des Herzensstücks der jungen Dame jenseits der finanziellen Schmerzgrenze des jungen Mannes.

      »Schau doch, wie der Ring funkelt. Wie meine Augen«, versuchte sie, ihn zu überzeugen.

      »Deine Augen funkeln nur, wenn du wütend bist«, gab er zur Antwort.

      Trautwein lächelte milde und sagte nichts.

      »Ach, bitte. Den oder keinen«, schob sie nach.

      »Also gut: keinen«, parierte er.

      »Ich kann Ihnen das Stück gern reservieren«, bemühte sich Georg Trautwein zu schlichten. »Sie überlegen in Ruhe und sagen mir Bescheid, wenn Sie sich für oder gegen den Ring entschieden haben.«

      Er nahm das Schmuckstück und legte es in die Vitrine zurück. Die junge Frau verließ enttäuscht den Laden, ihr Galan folgte ihr mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.

      »Du bist so ein Geizhals«, keifte sie im Hinausgehen. »Dabei hast du gesagt, dass du mir die Welt zu Füßen legst.«

      »Hab ich ja gemacht, als ich noch Zeitungen austrug. Jeden Morgen habe ich dir die ›Welt‹ zu Füßen gelegt«, erwiderte er.

      Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloss. Durch das Schaufenster konnte Andreas Goettle beobachten, dass dieser Streit noch lange nicht beendet war.

      »Ja, die Liebe. Sie darf halt nichts kosten. Was kann ich denn für Sie tun?«, wandte sich Georg Trautwein an ihn. Seine roten Backen standen in einem starken Kontrast zu den grauen Haaren, die er nach hinten gekämmt hatte. Im rechten Ohr steckte ein schwarzer Knopf mit einem goldenen Kreuz darauf. Das Schmuckstück wollte nicht recht zur Trachtenjacke und der Leinenhose mit Bügelfalte passen, verriet jedoch, dass der Juwelier ein Individualist war.

      Biberachs Gemeindepfarrer musterte sein Gegenüber kurz und kam zu dem Entschluss, dass Trautwein ein Mensch war, dem er ohne Weiteres sein Geheimnis anvertrauen konnte. »I glaub, i hab ein sehr spezielles Anliega«, begann er. »Ond vielleicht wär’s besser, Sie sperret kurz den Lada zua. Die Sach sodd nämlich unter uns bleiba.«

      »Das hört sich ja sehr spannend an. Und ich dachte, das eben Erlebte würde mein Highlight des Tages werden.« Der Juwelier zwinkerte Goettle zu.

      »Noi, gwies net«, erwiderte er und begann zu erzählen.

      Vorfreude.

      Sie ist zunächst bar jeglichen Makels. Und dennoch ist sie ein zartes Gebilde, das Neider hervorbringt. Diese Missgünstigen setzen alles daran, dieses kleine, nicht bestätigte Glück anderer zu zerstören. Und freuen sich, wenn ihre Bosheits-Sprengköpfe explodieren und die Euphorie in Stücke reißen.

      Zacharias